Späte Gerechtigkeit

HOLOCAUST In Lüneburg beginnt der Prozess gegen einen früheren SS-Mann, der in Auschwitz das Geld der Ermordeten zählte. Wegen Raumnot wird das Verfahren verlegt

„Die Strafe ist zweitrangig. Es wäre ohnehin zu spät“

HEDY BOHM, NEBENKLÄGERIN

AUS LÜNEBURG KLAUS HILLENBRAND

Siebzig Jahre nach der Befreiung von der NS-Herrschaft beginnt am Dienstag vor dem Landgericht Lüneburg der Prozess gegen einen der letzten noch lebenden mutmaßlichen Täter.

Dem ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning wird Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen vorgeworfen. Er habe 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau aus dem zurückgelassenen Gepäck der ankommenden Häftlinge geraubtes Geld gezählt und an die SS in Berlin weitergeleitet, wirft ihm die Staatsanwaltschaft Hannover vor. Gröning habe gewusst, dass die als arbeitsunfähig eingestuften Menschen nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

„Es ist ein Geschenk für mich, die ich einmal eine Sklavin gewesen bin, hier zu sein um den Prozess zu beobachten“, sagte Hedy Bohm am Montag. Sie ist eine von 67 Auschwitz-Überlebenden und deren Nachkommen, die als Nebenkläger in dem Verfahren zugelassen worden sind. „Die Strafe ist zweitrangig. Es wäre ohnehin zu spät“, meinte sie. „Ich verspüre keine Rachegefühle.“ Auch Eva Pusztal-Fahidi aus Budapest geht es nicht um Strafe. „Aber Sünden müssen verurteilt werden.“ Beide erklärten, sie seien gespannt, was Gröning im Prozess aussagen werde.

Dass er aussagen wird, hatte sein Rechtsanwalt Hans Holtermann erklärt. Gröning ist damit eine seltene Ausnahme. Kaum ein NS-Beschuldigter hat jemals seine Taten zugegeben. Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm von der Zentralen Stelle zur Ermittlung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, auf dessen Tätigkeit das Lüneburger Verfahren gründet, mochte sich im Gespräch mit der taz gar an keinen einzigen Fall eines Beschuldigten erinnern, der geständig war.

Bei Oskar Gröning ist das anders: Der rüstige Rentner gab bereitwillig Auskunft, darunter der New York Times, und er hat nicht versucht, seine Tätigkeit in Auschwitz zu verschleiern. Der „Buchhalter von Auschwitz“ erklärte, er sei 1940 freiwillig der SS beigetreten. In Auschwitz sei er in der „Häftlingsgeldverwaltung“ damit betraut worden, das Geld der Ermordeten nachzuzählen. Später habe er auch Dienst an der Rampe tun müssen, wenn die Züge mit den Todgeweihten eintrafen. Er sollte aufpassen, dass deren Gepäck nicht gestohlen wurde.

Doch Gröning will kein Täter gewesen sein. Er fühle sich schuldig gegenüber dem Volk der Juden – „ohne dass ich dabei Täter war“, sagte er vor zehn Jahren dem Spiegel.

Ein früheres Verfahren gegen Gröning war 1985 eingestellt worden. Damals galt in der Bundesrepublik die durch kein Gesetz gestützte Rechtsauffassung, dass bei einer Mordanklage ein unmittelbarer Nachweis für eine Mordtat vorliegen müsse. Die Folge: Tausende ehemaliger Wachmänner in Auschwitz, Sobibor, Treblinka und in anderen Vernichtungslagern entgingen einer Bestrafung.

Erst 2011 urteilte die Justiz im Münchner Demjanjuk-Verfahren anders. Seitdem gehen Staatsanwälte unter Hochdruck den letzten noch lebenden mutmaßlichen NS-Mördern nach. Oskar Gröning ist einer von ihnen. Weitere Verfahren sind anhängig. Doch ob es noch zu weiteren Prozessen kommen wird, ist ungewiss: Hohes Alter und Gebrechlichkeit der Beschuldigten haben schon in mehreren Verfahren zu deren Einstellung geführt.

Mangels geeigneter eigener Räumlichkeiten und angesichts des internationalen Medieninteresses hat das Lüneburger Landgericht den Prozess in die private „Ritterakademie“ verlegen lassen. Das hat Folgen: Schon am zweiten Prozesstag muss das Verfahren gegen Mittag enden, weil die Räumlichkeiten am Abend anderwärtig genutzt werden: Dann spricht dort die Comedian Lisa Feller über „Guter Sex ist teuer!“.