Auf der Suche nach Identität

GESICHTER Zwischen Selbstinszenierung und Dechiffrierung: Das Wolfsburger Kunstmuseum präsentiert Antworten auf die Frage: „Wer bin ich?“ Multiple Identitäten sind dabei nicht ausgeschlossen

„Ich, zweifellos. 1309 Gesichter“ heißt derzeit eine Ausstellung in Wolfsburg, und sie hält, was sie verspricht. 1.309 Gesichter sind im Kunstmuseum versammelt, wenngleich 850 davon allein auf eine Arbeit von Christian Boltanski mit dem Titel „Menschlich“ entfallen. Die Schwarz-Weiß-Portraits füllen im Kunstmuseum einen ganzen Raum. Wer die Portraitierten sind, weiß man nicht – Namen sind keine angegeben.

Die elementaren Übereinkünfte des Portraits sind inszenierende Selbstdarstellung und dechiffrierende Rezeption – ein wechselseitiger Sinngebungsprozess, der noch widerspruchsfrei eingelöst ist in dem Bildnis des historischen Ehrengastes der Ausstellung: des Grafen von der Schulenburg aus der Dynastie der Wolfsburger Ahnherren, gemalt von Antoine Pesne im Jahr 1740. Nichts scheint das Selbstbewusstsein des Dargestellten zu trüben, als Feldmarschall der Republik Venedig ruht er sicher im Zenit seiner Macht.

In ungleich fragilerem Habitus steht ihm gut 200 Jahre später Cindy Sherman gegenüber. In ihren fingierten Film Stills schlüpft sie in wechselnde Rollen, nur das vermeintlich objektive Medium Fotografie suggeriert einen Rest Verlässlichkeit. Mit selbstreflexiver Dokumentation erarbeitet sich Richard Billingham seine Biografie in einer Fotoserie anhand seiner familiären Herkunft, dem verwahrlosten, alkoholkranken Vater oder seinem vermutlich schon auf die schiefe Bahn geratenen Bruder.

Diese emotionale Rückverankerung in persönliche Bezüge benötigt Brian Alfred in der Installation aus 140 seiner virtuellen Vertrauten nicht mehr. Ikonen aus Kunst und Kultur werden durch plakative Schablonenmalerei vereinheitlicht und gleichmäßig auf drei Wände montiert. Dadurch wirken die Dargestellten nun allesamt befremdlich alterslos und ihrer Eigenarten beraubt. Erst ein zweiter Blick erkennt dann bekannte Gesichter und ihre Charakteristika umso deutlicher.

Gegenläufig dazu arbeitet der Schweizer Beat Streuli auf den Fensterflächen der Treppenrotunde: Ohne ihr Wissen fotografierte er anonyme Passanten in Brüssel. In transparenten und realistisch durchgezeichneten Großformaten werden sie fast exhibitionistisch dem Wolfsburger Außenraum ausgesetzt.

Dass dem menschlichen Individuum in der heutigen Welt multiple Identitäten geradezu abverlangt werden, dazu erfindet die Niederländerin Fiona Tan eine eindringliche Erzählung in ihrem Video „a lapse of memory“. Ihr Protagonist Henry, an seniler Demenz leidend, wandelt durch ein rätselhaftes, mit chinesischem Inventar vollgestopftes riesiges Haus an der englischen Küste. Nur tagtägliche Rituale und seine widersprüchlichen Erinnerungen halten ihn in einem überlebensfähigen Zustand, geduldig wartend auf eine Geschichte, die er zu seinem Zuhause machen kann.

Die meisten Exponate der Ausstellung gehören zur eigenen Wolfsburger Sammlung – das Kunstmuseum möchte nicht nur immer als das spektakuläre Ausstellungshaus der externen Leihgaben wahrgenommen werden. Mit „Ich, zweifellos“ scheint ein souveränes, vor allem aber: unerwartet nachdenkliches Portrait in eigener Sache gelungen.

BETTINA BROSOWSKY

bis 28. März 2010