BERNHARD GESSLER STETHOSKOP
: Was ist normal?

Angst vor Prüfungen oder anderen Widrigkeiten treibt den Blutdruck in die Höhe. Bei manchen Menschen reicht jedoch schon der Anblick medizinischen Personals: Sie leiden unter Praxis- oder Weißkittelhypertonie

Aber Herr Doktor, zu Hause war der Blutdruck noch 140/80!“, lautet der Kommentar vieler PatientInnen, wenn ich soeben einen Blutdruck von 180/100 gemessen habe. Das Phänomen, dass der Blutdruck vieler Menschen bei der Messung durch medizinisches Personal oder in Praxisräumen deutlich höher als in ihrer häuslichen Umgebung ist, nennt man folgerichtig Praxis- oder Weißkittelhypertonie.

Was ist die Ursache? Ein Teil unseres uralten, vegetativen Nervensystems, genauer gesagt: der Sympathicus ist dafür verantwortlich. Es ist verflixt: Die Messung eines Körperzustands bleibt – bewusst oder unbewusst – eine Testsituation für den Kranken. Und die Angst vor einer Prüfung und vor einem eventuell schlechten Ergebnis führt häufig zur Aktivierung dieses antreibenden Teils des unbewussten Nervensystems: Blutdruck und Puls steigen. Was vor zehntausenden von Jahren bei der Flucht vor dem Säbelzahntiger noch eine echt prima Idee des menschlichen Körpers war, erweist sich in Anwesenheit eines mit Stethoskop und Blutdruckapparat bewaffneten Artgenossen als, evolutionsbiologisch betrachtet, eher hinderlich.

Hinderlich ist auch die Wahl einer falschen Manschettenbreite: Bei zu kleinen Manschetten misst man zu hohe Blutdruckwerte, bei zu breiten Manschetten zu niedrige. Eine moderne Spielart der ärztlichen Kunst ist es somit, bei eher dicken Oberarmen fast beiläufig und mit einem neutralen Gesicht die breite Manschette anzulegen.

An die Messung des Blutdrucks schließt sich meistens eine Diskussion über Normalwerte desselben an. Dabei ist die „Normalität“ bei diesem Messwert recht variabel. In der Medizin reden wir lieber über Ziel- und Grenzwerte, als über „normale Werte“. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert den Zielwert von 120/80. Der Grenzwert ist 135/85. Alles darüber hinaus wird als Bluthochdruck (arterielle Hypertonie) definiert.

Bluthochdruck ist eine chronische Erkrankung, tut aber selten weh – es sei denn, der Blutdruck steigt auf so hohe Werte, dass man Kopf- oder Herzschmerzen bekommt. Im Gegensatz dazu fühlen sich Menschen mit Veranlagung zu niedrigem Blutdruck – Hypotoniker – oft schlecht und unwohl, obwohl sie im medizinischen Sinne eigentlich keine Krankheit haben. Wenn junge und in der Regel schlanke Frauen von ihren „Kreislaufproblemen“ berichten, meinen sie die Symptome eines niedrigen Blutdrucks wie Schwindel, Gefühle einer drohenden Ohnmacht, Schwäche. Paradoxerweise ist aber die Lebenserwartung gerade dieser Menschen deutlich besser als die der beschwerdefreien Hypertoniker, deren Arterien schneller verkalken. Man ist so alt wie seine Gefäße, lautet ein populäre Erkenntnis. Das ist sicher nur ein Teil der medizinischen Wahrheit – aber ein gut zu merkender.

Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat