Die Herzkammer pocht

PROTEST Zehntausende demonstrieren gegen das umstrittene Freihandelsabkommen TTIP. Nun beginnt ein neues Ringen. Auch die Industrie reagiert auf den Druck von der Straße

Deutschland gilt als die Herzkammer des europäischen Anti-TTIP-Protests

VON MARTIN KAUL

BERLIN taz | Sie steht mit einem gelben Protestschild vor dem Brandenburger Tor in Berlin und der sorgenvolle Blick der älteren Dame sagt viel aus. Hier spricht die Furcht, und die Furcht, so scheint das Bild auch zu sagen, hat die Bevölkerung erreicht.

Zehntausende Menschen gingen am Wochenende in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen die geplanten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta sowie das geplante Dienstleistungsabkommen Tisa zu demonstrieren, die derzeit auf europäischer Ebene vorangetrieben werden. Allein in München kamen dabei am am Samstag rund 20.000 Menschen zusammen, auch in Frankfurt und Stuttgart, Ulm und Leipzig protestierten Menschen gegen die Abkommen. Bundesweit soll es nach Angaben des globalisierungskritischen Netzwerks Attac über 200 Protestaktionen gegeben haben, weltweit gar 750.

Damit erreichen die Proteste eine durchaus kritische Schwelle, auf die auch die Gegenseite inzwischen reagiert. Am Sonntag verkündete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, dass der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), einer der mächtigsten deutschen Wirtschaftsverbände, in dieser Woche mit einer eigenen Kampagne einen neuen Unterstützungsfeldzug für das TTIP-Abkommen starten will. Der Lobbyverband wirbt seit Langem offensiv für das Abkommen, gerät im europäischen Kampf um das Abkommen aber zunehmend unter Druck.

Bei den langwierigen und intransparenten Verhandlungen um das umstrittene TTIP-Abkommen ringen europäische und US-amerikanische Delegationen seit Langem um einen gemeinsamen Vertragstext. Mit dem Abkommen sollen Handelshemmnisse zwischen dem europäischen und dem US-amerikanischen Markt abgebaut werden (siehe Report Seite 4).

Die Kritiker befürchten, dass Deregulierung auf beiden Seiten vor allem Verbraucherschutzrechte sowie Umwelt- und Sozialstandards einschränken könnte. Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen wettern seit Langem gegen TTIP. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac verzeichnet nach eigenen Angaben massiven Zulauf – und die Demonstrationen auf den Straßen werden mächtiger. Eine ganze Reihe von Spitzenpolitikern sah sich am Wochenende zu Reaktionen genötigt. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) verteidigten angesichts der Proteste das Vorhaben, zu gemeinsamen Handelsstandards mit den USA zu gelangen.

Der Auseinandersetzung in Deutschland kommt dabei eine besondere Rolle zu, weil Deutschland als Herzkammer des europäischen Protests gegen die verschiedenen Abkommen gelten darf. Passend dazu vermeldete am Sonntag die Initiative für eine europäische Bürgerinitiative gegen TTIP einen besonderen Erfolg: Nach eigenen Angaben hat die Initiative inzwischen allein in Deutschland eine Million Unterschriften gegen das Abkommen gesammelt.

Insgesamt haben die Aktivisten demnach europaweit bereits 1,7 Millionen Unterschriften gesammelt und in elf Ländern die von der EU geforderten Länderquoren erfüllt. Damit zählt die Initiative schon jetzt zu den erfolgreichsten europäischen Bürgerinitiativen überhaupt und könnte die EU-Kommission nun eigentlich zwingen, sich mit dem Basisvotum auch formell zu beschäftigen – allerdings vorerst nur theoretisch. Denn die EU-Kommission lehnt es ab, die Initiative anzuerkennen, und argumentiert unter anderem, Bürgerinitiativen dürften nur positive Formulierungen erlassen, nicht jedoch darauf hinwirken, einen Vertrag nicht zu unterzeichnen. Die Aktivisten klagen derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof gegen diese Entscheidung – und wollen noch bis zum Herbst europaweit weitere Stimmen sammeln.

Report SEITE 4