Die zweite Katastrophe in einer Woche

MITTELMEER In der Nacht zum Sonntag ist erneut ein Boot mit Flüchtlingen gekentert. Es wird mit bis zu 700 Todesopfern gerechnet. Italiens Regierungschef Matteo Renzi rief einen Beratungsgipfel in Rom ein. Rechte fordern nun eine Seeblockade vor Libyen

■ April 2015: Vor der libyschen Küste kentert ein Boot mit über 700 Menschen. Erst Tage zuvor waren 400 Menschen ertrunken.

■ Februar 2015: Vor Lampedusa kommen mehr als 330 Flüchtlinge ums Leben. Mindestens 29 von ihnen sterben während der Überfahrt an Unterkühlung.

■ September 2014: Nur zehn Menschen werden gerettet, als ein Boot mit mehr als 500 Migranten im Mittelmeer untergeht.

■ Juli 2014: Vor Libyens Küste ertrinken mindestens 150 Menschen. Die Küstenwache findet Leichen und Wrackteile.

■ Oktober 2013: Etwa 366 Flüchtlinge ertrinken bei Lampedusa, als ihr Boot kentert. Die Küstenwache rettet 155 Menschen. (dpa, taz)

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Die womöglich schwerste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer seit je hat sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag zwischen Libyen und Malta ereignet. Während nach dem Untergang ihres Schiffs bis zum Sonntagmittag 28 Menschen gerettet werden konnten, wird mit bis zu 700 Todesopfern gerechnet.

Mehr als 700 Personen sollen sich nämlich an Bord des heillos überladenen, nur 30 Meter langen Fischkutters befunden haben. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ist der Kutter wahrscheinlich von Libyen aus in See gestochen, auch wenn einige Medien Ägypten als Abfahrtsort nennen. Am Samstagabend wurde von dem Boot aus ein Notruf an die italienische Leitstelle der Hafenkommandaturen abgesetzt mit der Mitteilung, das Schiff habe Manövrierprobleme.

Die italienische Behörde alarmierte daraufhin ihrerseits den portugiesischen Containerfrachter „King Jacob“, der sich am nächsten zu dem havarierten Boot befand. Dies ist gängige Praxis, seit Italien am 1. November 2014 die Rettungsmission „Mare Nostrum“ eingestellt hatte und die Schiffe der Marine oder der Küstenwache nicht mehr in unmittelbarer Nähe der libyschen Küste kreuzen.

Die „King Jacob“ erreichte das Flüchtlingsschiff gegen Mitternacht, es befand sich zu diesem Zeitpunkt etwa 90 Kilometer von der libyschen Küste und 190 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. Allem Anschein nach hat ausgerechnet das Nahen von Rettung dann die Katastrophe ausgelöst. Die Flüchtlinge sollen sich alle an eine Seite des Schiffs gedrängt und es damit zum Kentern gebracht haben.

Der Besatzung des Containerfrachters gelang es, 28 Menschen aus dem Wasser zu retten, während 24 Opfer nur noch tot geborgen werden konnten. Italien setzte diverse Schiffe der Küstenwache und der Marine in Marsch und forderte zudem in der Zone befindliche Handelsschiffe und Fischkutter zur Beteiligung an der Rettungsaktion auf, und auch aus Malta liefen mehrere Boote aus; am Sonntagmittag befanden sich insgesamt 17 Schiffe sowie mehrere Flugzeuge und Hubschrauber am Unglücksort. Mit Temperaturen von 17 Grad ist das Mittelmeer mittlerweile warm genug, um den Menschen ein auch stundenlanges Überleben im Wasser zu erlauben. So konnten in der letzten Woche vier Flüchtlinge gerettet werden, die nach dem Untergang ihres Boots drei Tage lang im Wasser überlebt hatten.

Das Unglück vom Sonntag ist die zweite schwere Katastrophe binnen einer Woche; am letzten Sonntag war ein Schiff mit etwa 550 Menschen gekentert, von denen nur 145 gerettet werden konnten, während 400 ertranken. Die Dynamik war damals völlig deckungsgleich: Beim Eintreffen des rettenden Frachters waren die Menschen an Deck alle zu einer Seite geströmt, hatten nach Zeugenaussagen die Passagiere unter Deck zudem den Weg nach oben gesucht; das Schiff geriet daraufhin ins Schaukeln und kippte schließlich auf die Seite.

Allem Anschein nach hat ausgerechnet das Nahen von Rettung dann die Katastrophe ausgelöst

Carlotta Sami, Sprecherin des UNHCR für Italien, machte einerseits die „deutlich gewachsene“ kriminelle Energie der libyschen Schlepperbanden (siehe Text unten) für die letzten Unglücke verantwortlich, da die Boote mittlerweile in unglaublicher Weise vollgestopft würden. Andererseits klagte sie die Wiederaufnahme der „Mare Nostrum“-Rettungsmission, diesmal unter europäischer Regie, ein, da Handelsschiffe und deren Besatzungen weit schlechter für Rettungseinsätze gerüstet seien als die Einheiten von Marine und Küstenwache.

Italiens Regierungschef Matteo Renzi zeigte sich tief bestürzt über das jüngste Unglück; er unterbrach am Sonntagvormittag eine Wahlkampfreise im Norden Italiens und berief für den späten Nachmittag einen Regierungsgipfel in Rom ein, auf dem über Maßnahmen gegen das Massensterben im Meer beraten werden soll. Während Papst Franziskus auf dem Petersplatz dazu aufrief, „mit Entschlossenheit und Schnelligkeit“ auf die Tragödien zu reagieren, und daran erinnerte, dass die Flüchtlinge „unsere Brüder, Menschen wie wir“ seien, die Hunger oder Verfolgung zu entkommen suchten, nutzt wiederum Italiens Rechte die Ereignisse, um eine radikale Politikwende weg vom „Gutmenschentum“ einzuklagen. Matteo Salvini, Chef der fremdenfeindlichen Lega Nord, machte die „Heuchelei“ der Regierung für die Toten verantwortlich. Die einzige angemessene Antwort sei „eine Seeblockade vor der libyschen Küste, nicht erst in sechs Monaten, sondern ab morgen“.

Mit dieser Forderung steht Salvini nicht allein. Auch Politiker aus Silvio Berlusconis Forza Italia würden gerne Italiens Marine vor Libyens Küste sehen – nicht um den „Mare Nostrum“-Einsatz wieder aufzunehmen, sondern um Flüchtlingsschiffe an der Abfahrt zu hindern. Und auch der Christdemokrat Pierferdinando Casini, immerhin Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Senat, schloss sich dieser Forderung an. Ob dabei auch geschossen werden soll, erklärte bisher keiner der Befürworter eines solchen Einsatzes.