Cabello und Liebe

MACHTKAMPF Sozialistischer Parlamentspräsident weigert sich, Chavez’ Nachfolge anzutreten. Opposition strebt Neuwahlen an

BERLIN taz | „Der gewählte Kandidat oder die gewählte Kandidatin tritt am 10. Januar des ersten Jahres seiner oder ihrer verfassungsgemäßen Amtszeit durch Vereidigung vor der Nationalversammlung das Amt des Präsidenten oder der Präsidentin der Republik an. Sollte der Präsident oder die Präsidentin der Republik, gleich aus welchem Grund, nicht vor der Nationalversammlung das Amt antreten können, so geschieht dies vor dem Obersten Gerichtshof.“ So sagt es der Artikel 231 der venezolanischen Verfassung. Was aber geschieht, wenn der gewählte Präsident beides nicht kann, sondern am 10. Januar krebskrank auf Kuba liegt, das sagt die Verfassung nicht, und darüber herrscht derzeit der Streit in Venezuela.

Die Regierung, genauer Parlamentspräsident Diosdado Cabello und Vizepräsident Nicolás Maduro, vertritt, unterstützt von Generalstaatsanwältin Cilia Flores, die Auffassung, das Datum der Amtseinführung sei nicht relevant, da Chávez ja bereits Präsident sei und nicht „gewählter Kandidat“, wie es in Artikel 231 steht. Den Amtseid könne er auch später ablegen, wenn es ihm die Gesundheit erlaube. Derzeit befände sich der Präsident mit Erlaubnis der Nationalversammlung im Ausland, alles sei geregelt. Im Übrigen habe eine klare Mehrheit der Bevölkerung am 7. Oktober Chávez wiedergewählt – alles andere als ein Präsident Chávez sei eine Missachtung des Volkswillens, mithin also des Artikels 5 der Verfassung über die Volkssouveränität.

Anders sieht das die Opposition: Für sie markiert der 10. Januar den Beginn einer neuen Präsidentschaft, und wenn Chávez da nicht ins Amt eingeführt werden könne, dann komme Artikel 233 der Verfassung zum Tragen: „Ergibt sich vor der Amtseinführung ein zwingender Hinderungsgrund bezüglich der Person des gewählten Präsidenten oder der gewählten Präsidentin, folgen neue allgemeine, direkte und geheime Wahlen innerhalb der nächsten dreißig Tage. Bis der neue Präsident oder die neue Präsidentin gewählt ist und das Amt antritt, nimmt der Präsident oder die Präsidentin der Nationalversammlung die Präsidentschaft der Republik wahr.“ Das wäre Diosdado Cabello – und der hat das bereits abgelehnt.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Kontroverse vor die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs geht. Allerdings hat sich die Opposition bislang nicht zu diesem Schritt entschlossen, wohl auch aus Misstrauen: „Der Oberste Gerichtshof ist ein Ableger der Regierungspartei, hier gibt es keine Gewaltenteilung“, sagte der Oppositionsabgeordnete Julio Borges vergangene Woche.

Präzedenzfälle gibt es: Als es 2009 um die Einführung eines oppositionellen Gouverneurs ging, beschrieben die Richter das als „unabdingbaren“ Verfassungsakt und unbedingt erforderlich. BERND PICKERT