Drinnen und draußen

PERFORMANCE Inspiriert von Reiseberichten Navid Kermanis: Die „Vierte Welt“ in Kreuzberg lotet die Idee der Gastfreundschaft aus

Eingeladen haben die Veranstalter jeweils einen Gast aus einem der Länder, die Kermani bereist hat

VON JANNIS HAGMANN

Gäste waren die Zuschauer im Kreuzberger Performance-Raum Vierte Welt am Samstag nicht. Das betonte der Gastgeber gleich zu Beginn des Abends. Jedem hatte er eine Zahl auf die Eintrittskarte geklebt. Nummern seien die Zuschauer, keine Gäste. Der Hausherr hatte nur einen auserkorenen Gast: Omar Kasmani, einen Anthropologen aus Pakistan, der sich, nun ja, irgendwie selbst spielte, zu Gast sein durfte.

Was ist Gastfreundschaft? Was bedeutet es, Gastgeber und „Gastnehmer“ zu sein? Mit viel Witz ging die Performance „Ausnahmezustand oder sechs Versuche in der Kunst der Gastfreundschaft“ diesen Fragen nach. Zementiert nicht bereits die Idee der Gastfreundschaft zwei ungleiche Positionen? Wohnt der Beziehung zwischen Gastgeber und Gastnehmer nicht bereits ein Machtverhältnis inne? Können sich zwei Menschen überhaupt begegnen, ohne von vornherein gefangen zu sein in der eigenen Perspektive?

Den Perspektivwechsel vollbrachte der Hausherr, gespielt vom schwedischen Schauspieler Anders Carlsson, nicht. Der mächtigen Rolle des Gastgebers blieb er konsequent verhaftet. Immer stärker ließ er seinen pakistanischen Gast zum Objekt werden, bewirtete ihn, ließ ihn sich wohlfühlen, tanzen und zwang ihn regelrecht zu trinken. Dabei insistierte Carlsson auf dem kulturellen Anderssein Kasmanis. „Interessant“, rief er freudig aus, ohne sich auf seinen meist schweigenden Gast einzulassen, „jemanden aus einer anderen Kultur zu treffen.“

Auch dem Publikum wandte sich der Hausherr zu. Per Losverfahren rief er eine Nummer nach der anderen auf und lud die etwa dreißig Zuschauer, die zu der ausverkauften Premiere gekommen waren, ein, von Raum zu Raum zu wandern und schließlich – unter penibler Anleitung Carlssons – eine „mingling party“ zu feiern, sich gegenseitig kennenzulernen.

Und auf einmal hatte das Publikum Kasmanis Platz eingenommen. Nun waren doch die Zuschauer zu Gast bei Carlsson und Kasmani klopfte von außen, aus der kühlen Kreuzberger Nacht, an die Fensterscheiben des Veranstaltungsraums. Der Hausherr hatte – aus einer Laune heraus – seinen Gast gewechselt. Politisch gewendet könnte man hier fragen: Muss Gastfreundschaft nicht radikal zu Ende gedacht und auf jede Unterscheidung zwischen Gästen verzichtet werden? Ist eine unbedingte Gastfreundschaft nicht die einzig mögliche Reaktion auf die Hunderttausenden von Krieg und Elend Vertriebenen, von denen Europa umgeben ist? Zynisch erscheinen auf einmal die deutschen Debatten über Flüchtlingskontingente.

Inspiriert ist die Performance „Ausnahmezustand“ von der gleichnamigen Reportagesammlung Navid Kermanis. Der Kölner Schriftsteller war von Indien über Iran und Pakistan bis nach Syrien und Palästina gereist und hatte für eine seiner Reportagen auch die italienische Insel Lampedusa besucht.

Es ist wohl Kermanis Stärke, sich als Berichterstatter auf seine Gesprächspartner einzulassen und stets die eigene Position zu reflektieren, die Regisseur Dirk Cieslak inspirierte, sich den Themen Fremdheit, Offenheit und Gastfreundschaft in einer Performance-Reihe frei nach Kermanis Reportagen zu nähern.

Bis Mai kommenden Jahres sollen auf den ersten Teil fünf weitere Performances in der Vierten Welt folgen. Eingeladen haben die Veranstalter jeweils einen Gast aus einem der Länder, die Kermani bereist hat: Afghanistan, Iran, Syrien und Palästina. Es sind Länder, wie Navid Kermani schreibt, die sich im Ausnahmezustand befinden, ein „Krisengürtel, der sich von Kaschmir (…) bis in die arabische Welt erstreckt“.

Im sechsten Teil dann steht Lampedusa selbst an, das Tor zu Europa. Der Weg aus den Krisengebieten durchs Mittelmeer nach Europa erinnert an das Losverfahren in der Vierten Welt, das Gastgeber Carlsson am Samstagabend bewusst ad absurdum führte, indem er nicht eine, sondern jede Nummer zog, bis auch der letzte Zuschauer aufgerufen war. Im Mittelmeer wird nicht jede Nummer gezogen. Den Status des Gastes, den man willkommen heißen kann oder nicht, erreichen viele Flüchtlinge erst gar nicht.

■ „Ausnahmezustand oder sechs Versuche in der Kunst der Gastfreundschaft“; wieder am 12. und 13. Dezember, Vierte Welt