KOMMENTAR
: Subversive Energie

Samir Akika zollt mit dem Tanzstück „Die Zeit der Kirschen“ dem großen Komiker Jacques Tati Tribut

Die Zeit der Kirschen“, das ein altes Lied. Geschrieben hat es einst Jean Baptiste Clement, französischer Kommunarde und Liedermacher. Es wurde nach der Niederschlagung der Pariser Commune zum Symbol der Hoffnung für die radikale Linke. Nun hat Samir Akika, Hauschoreograf am Theater Bremen, seine Hommage an den großen französischen Filmemacher und Komiker Jacques Tati danach benannt – was auf den ersten Blick irritieren mag.

Dann aber: Ist sein Monsieur Hulot nicht recht eigentlich ein Anarchist im besten Sinne? Der personifizierte praktische Aufstand gegen die Zumutungen der bürgerlichen Gesellschaft? Der Geist, der stets das Gute will und dabei heillose Unordnung schafft, also: hierarchische Verhältnisse unterminiert, die falschen Versprechungen der Warenwelt ganz buchstäblich dekonstruiert?

Bei Akika besteht daran kein Zweifel. Für seinen über eineinhalb Stunden langen Abend fährt er zur Illustration des subversiven Hulot nicht nur Motive aus Tatis Filmen auf, zuvörderst aus dem Oscar-prämierten „Mon oncle“, sondern auch Zombies und Moonwalk aus Michael Jacksons „Thriller“-Video, allerlei Songs, deren Sinn sich derweil nicht immer erschließen mag, Standardsituationen des Slapstick – und die Stimme des echten Tati in seiner Dankesrede vor dem ideellen Gesamt-Hollywood, in der er sich bescheiden als Neffen, weil Nachfolger, der großen amerikanischen Komiker, nicht als deren Onkel einschätzt. I

In einer nicht immer linearen Bilderfolge entfaltet der Choreograf mit seinem ganz vorzüglich agierenden Ensemble seine Huldigung, wobei es, wieder einmal, geradezu frappierend ist, was seine „Unusual Symptoms“ alles können: Tanzen können sie, natürlich, aber einige von ihnen machen dazu ganz famos Musik, sie singen, können auch sehr schön schauspielen. Dass das Tanztheater zumindest ein genau richtiger Ort für eine solche Hommage ist, leuchtet dabei unmittelbar ein. Die Präzision, mit der Tati seinem Hulot eine ja beinahe rein körperliche Sprache gibt, verbindet ihn mit großen Kollegen wie Buster Keaton, Charlie Chaplin und anderen.

Die subversive Energie von „Die Zeit der Kirschen“ kulminiert in einer der schönsten Szenen, die wir in den letzten Monaten (wenn nicht länger) auf einer Bremer Bühne gesehen haben: Das Finale des Hulot’schen Kampfes gegen die Bürokratie, in der Frederik Rohn und Paolo Fossa Antragsteller und Machtmensch geben, der eine ein zauberhaft widerwärtiger Tyrann, der seine tippelnden Sekretärinnen mit Papierkugelwürfen hetzt und sich selbst mit dem Telefon traktiert, um dem anderen seine Ohnmacht vorzuführen, der wiederum – ach, das muss man nicht beschreiben, das muss man einfach sehen! Und natürlich, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, gibt es auch einen Laternenpfahl, der seiner Slapstick-Bestimmung (Bumm!) ausführlich zugeführt wird.

Dass die überbordende Fülle dieses Abends dann auch noch eine schlüssige Form findet, ist das Tüpfelchen auf dem i. Damit haben sich Akika und die Unusual Symptoms den begeistern Applaus des Premierenpublikums mehr als verdient. ANDREAS SCHNELL