ALTE RECHNUNGEN
: Röntgental

Ich verlaufe mich, wie ich mich auch damals verlaufen hatte

A hatte gefragt, ob ich vorbeikommen wolle, bevor das Haus ganz ausgeräumt sei. Vielleicht fände ich ja noch etwas zur Erinnerung an den „Urvater“, der 1984 starb, in dem Jahr, in dem ich nach Berlin gezogen war, an meinen Vater, der bis 44 hier gewohnt hatte; an G und L, seine Eltern.

Der Opa war klein und knorrig gewesen. Ein geiziger, in sich verschlossener Mann mit wässrig blauen Augen hinter einer Brille mit total dicken Gläsern. 1899 geboren; ein schweres, auch tragisches Leben. Er war mir eher fremd gewesen. Als Teenager hatte ich ihn in einem Brief versehentlich mit „Onkel Gustav“ angeredet, weil ich ihn mit Gustav Gans verwechselt hatte.

Am Fenster der S-Bahn erinnere ich mich, an meinen ersten Besuch in Röntgental in den 70er Jahren. Ich hatte gerade die „neuen Leiden des jungen W.“ gelesen, war gespannt, wie es in der DDR ist, und enttäuscht, dass in der Diskothek nicht die Puhdys gespielt wurden, sondern „Mull of Kintyre“ von Paul McCartney.

Ich verlaufe mich, wie ich mich auch damals verlaufen hatte. Es stört mich nicht weiter. Es ist schön, in der Sonne spazieren zu gehen. A und B stehen mit zwei Helfern am Haus, man gibt sich die Hand und steht einen Moment zusammen. Man merkt dem Haus an, dass es seit dem Tod von L kaum bewohnt worden war. Im Keller finde ich einen Bierkrug aus der Kaiserzeit. Jugendstil. „Für den besten Schützen“ ist eingraviert. Bekamen den Soldaten, die besonders viele Leute totgeschossen hatten? War er der Preis eines Preisschießens? Ich lasse den Krug stehen.

Und nehme stattdessen: zwei Schreibtischlampen aus der DDR, eine Deckenlampe, eine Plastikflasche mit einem sächsischen Flaschenteufel, eine kleine Flöte, die selbstgebaut wirkt, eine Mappe mit Rechnungen zwischen 1928 und 1982 und den Schatz, ein paar tausend Reichsmark, die leider nichts wert sind.

DETLEF KUHLBRODT