ELTERN BEOBACHTEN
: Die Wette

„Warum versteht der Junge kein Nein?“, klagt die Mutter

„Die Füße runter, Jonas!“ Jonas ist vielleicht vier, vielleicht drei. So genau kann ich das nicht einschätzen. Sicher bin ich mir bei Jonas nur, dass er die Füße nicht runternehmen möchte. Seine Mutter schiebt sie von der Bank, und sofort zieht er sie wieder hoch.

Ich stoße meine Freundin an: „Wollen wir wetten?“ – „Was denn?“ – „Dass es die Mutter nicht schafft, dass der Kleine die Füße runternimmt.“

Melanie willigt ein. Manchmal wundere ich mich über ihre Naivität. Sie weiß doch aus eigener Erfahrung, wie stur Kleinkinder sein können. Und der Tonfall der jungen Frau ist viel zu nachgiebig. „Mach die Füße runter!“ Jonas möchte immer noch nicht gehorchen, aber seine Mutter bleibt dran.

„Die Schuhe machen den ganzen Sitz dreckig. Und der nach dir bekommt dann eine dreckige Hose.“ Mir leuchtet das ein, aber ich bin ja auch schon erwachsen. Vermutlich haben meine Eltern zumindest etwas richtig gemacht. Jonas bleibt stur. „Bitte, Jonas! Runter mit den Füßen.“ Erneut schiebt sie die Beine vom Sitz. Erneut zieht er sie wieder hoch. „Ach, Mensch! Jonas!“, seufzt sie. „Sieht nicht gut aus für dich“, murmele ich. Melanie verzieht das Gesicht. „Ist mir doch egal, wie die Wette ausgeht.“

„Warum versteht der Junge einfach kein Nein?“, klagt die Mutter gut vernehmbar für die anderen Fahrgäste. Offensichtlich ersucht sie Verständnis für ihre bevorstehende Kapitulation. „Soll ich’s ihr erklären? Ich kenn die Antwort.“ Melanie zuckt mit den Schultern. „Ist mir doch egal.“

Jonas’ Mutter kramt in ihrer Tasche und holt ihr Smartphone hervor. Sie reicht es ihrem Sohn. Nun nimmt dieser die Füße doch runter. Melanie freut sich: „Ich glaube, ich habe die Wette gewonnen.“ – „Das ist Betrug“, protestiere ich. Aber meine Freundin geht nicht auf den Einwand ein. Weberwiese. Wir müssen aussteigen. STEPHAN SERIN