So war 2008

Mit viel Mut zu mehr buten: Die taz erklärt, wie das neue Jahr im Rückblick gewesen sein wird

Von Henning Bleyl und B. Schirrmeister

10. Januar Helmut Seitz, Finanzwissenschaftler an der TU Dresden und von Bremen zur Unterstützung vor dem Bundesverfassungsgericht engagiert, vergleicht den Stadtstaat an der Weser mit dem Reich der Azteken: Ebenso wie die präkolumbianische Hochkultur laufe Bremen Gefahr, von ausländischen Investoren, die zunächst – „im übertragenen Sinn“ – mit Göttern verwechselt würden, zugrunde gerichtet zu werden. Zuvor hatte Seitz den Stadtstaat bereits mit dem Römischen Reich und der DDR verglichen

11. Januar Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) kündigt an, Gutachten des Senats künftig ausschließlich von Bremer WissenschaftlerInnen erstellen zu lassen. Kritiker sprechen von einem „Lex Hickel“, das mit dem Gebot voraussetzungsfreier Wissenschaftlichkeit nicht vereinbar sei. Bild Bremen titelt: „Droht jetzt Montezumas Rache?“

12. Januar Seitz relativiert seine Einlassungen: Mit der Warnung vor geheimnisvollen Fremden habe er keineswegs an die künftigen Betreiber des früheren Space Parks gedacht

12. Februar Bei der Senatspressekonferenz lässt Bürgermeisterin Karoline Linnert eine Bombe platzen: Mindestens 10 Jahre lang hat offenbar unbemerkt von der Steueraufsicht ein privat betriebenes Sonderfinanzamt „Bremen Südsüdost“ Steuern eingetrieben. Inzwischen habe man die Schattenhaushaltsbehörde aufgelöst, versicherte Linnert. Das eingetriebene Geld sei offenbar teils für den Erhalt des privaten Sonderfinanzamts, teils für gemeinnützige Aufgaben, insbesondere die Finanzierung von Großprojekten wie Space Park und Botanika verwendet worden, an allen Haushalten vorbei, so Linnert. „Wir sind über Jahre hinweg betrogen worden“

13. Februar Der Sprecher des Vereins „Finanzamt Südsüdost“, Bernhard Zentgraf, weist empört die Behauptung zurück, man habe die eigenen Steuereinnahmen zum Erhalt der Privatbehörde verwendet. „Unser Sonderfinanzamt war in einer Schwachhauser Villa untergebracht – so viel ist richtig“, sagt Zentgraf der taz. Diese sei aber vormittags von einer privaten Krabbelgruppe genutzt worden, so dass die Sozialbehörde die Betriebskosten ohnehin getragen habe. Zentgraf: „Es geht hier ganz offenbar nicht um die private Einrichtung – sondern ums Begleichen privater Rechnungen“, das habe wohl mit seiner Vorstandsarbeit beim Bund der Steuerzahler zu tun

14. Februar Der finanzpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Hartmut Perschau, fordert Linnert zum Rücktritt auf

25. Februar Der Privatsteuer-Skandal, der schon seit einer Woche bundesweit für Aufsehen sorgt, bringt es zur Titelgeschichte beim Spiegel. Das Recherche-Team des Nachrichtenmagazins hat wirklich neue Erkenntnisse gesammelt: Erstens arbeitet das Sonderfinanzamt bereits seit 1979, zweitens gehöre der damalige Finanzsenator zu den Gründern des Vereins und drittens sei auch Ulrich Nölle Mitglied gewesen. „Den mussten wir allerdings rauswerfen“, zitiert der Spiegel-Artikel Zentgraf, „weil er seine Beiträge nicht bezahlt hatte“. Scherf aber habe dem Club „immer die Treue gehalten“ und auch die meisten Neumitglieder akquiriert. Henning Scherf hat sich allerdings einer Forschungsreise ins Eismeer angeschlossen

1. März Der langjährige Chefredakteur des Weser-Kurier, Volker Weise wird mit einem Festakt in der oberen Rathaushalle verabschiedet. In seiner Laudatio gratuliert Umweltsenator Reinhard Loske (Grüne). Zudem bedankt er sich für die gute Zusammenarbeit: „Ohne Sie wäre ich als Zugezogener hier nie so schnell bekannt geworden.“ Völlig überraschend verlässt Weise daraufhin seine Ehrung

8. März Im Verlag „Cum Littera et Ferro“ [„Mit Buchstabe und Schwert“] erscheint das unmittelbar nach der Wahl-Niederlage der CDU angekündigte Enthüllungsbuch von Elisabeth Motschmann. „Wir starken Frauen – die Wahrheit“ ist eine schonungslose Abrechnung mit der Funktionalisierung weiblicher Mitglieder in den Wahlkämpfen der Bremer CDU. Verleger Jens Motschmann hat bereits für eine auflagenstarke Übersetzung ins Lettische gesorgt

30. März Die Kriminalpolizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe: „Zunächst hatten wir das nur für jugendliche Randale gehalten“, sagt ein Polizeisprecher, „was uns Sorge bereitet ist allerdings das methodische Vorgehen der Täter.“ Seit dem 3. März würden jeweils in der Nacht zu Montag die Eingänge des Gebäudes Ansgaritorstraße 2, also „der Bau- und Umweltbehörde“ von Unbekannten verunreinigt, „und zwar mit menschlichen Exkrementen“. Diese seien so dünnflüssig, dass man ihre wahre Beschaffenheit nicht erkannt habe. Ein DNA-Abgleich sei ergebnislos geblieben. „Wer ist der Scheißer von Bremen?“, fragt Bild

1. April Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beginnt die mündliche Verhandlung über die Bremer Klage. Nach der 18-stündigen Verlesung der zentralen Schriftsätze stellen die Vertreter des Bundes einen Befangenheitsantrag gegen Richter G.: Recherchen hätten ergeben, das G.s Großonkel G. über Bremerhaven in die USA ausgewandert sei und dort ein sehr beträchtliches Vermögen erworben hätte. Eine familiär tradierte positive Grundprägung des Richters gegenüber der Hansestadt, „zumindest im subcognitiven Bereich“, könne nicht ausgeschlossen werden

14. April Die Reihe der Fäkalien-Attentate reißt nicht ab: Nachdem der Stuhl-Terrorist zunächst unbemerkt auf den Zugang Hanseatenhof ausgewichen war, hat er in der Nacht seinen Unrat auf die Fenster des Gebäudes platziert – „offenbar mit einem Spritzgerät vom Dach eines benachbarten Kaufhauses“, informiert der Polizeisprecher

21. April Trotz deutlich gestiegenen Überwachungsdrucks ist dem Fäkalien-Aggressor ein neuer Coup gelungen – er hat sich am Wochenende offenbar in der Baubehörde einschließen lassen. Das Senatorenzimmer muss neu tapeziert werden. Das sei ärgerlich, erklärt Loske, aber biete die Gelegenheit, das Büro „prototypisch klimaneutral renovieren zu lassen“

10. Mai Zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennung tritt Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) „aus persönlichen Gründen“ von allen Ämtern zurück. Zuvor hatte der Anwalt der Erich Fried-Erbengemeinschaft eine großformatige Anzeige in der New York Times angekündigt

20. Mai Aufregung in der CDU: Der überraschende Übertritt von Dieter Focke und Helmut Pflugradt zu den „Neuen Bremer Konservativen“ (NBK) sorgt für einen heftigen Flügelstreit. Bernd Neumann fordert die „Rückbesinnung auf zentrale Werte“ – und die Ablösung seines soeben erst gewählten Nachfolgers Jens Eckhoff im Amt des Parteichefs

21. Mai Eckhoff repliziert: „Die Äußerungen eines ehemaligen Ministers, der in der CDU nur noch eine marginale Rolle spielt, sind nicht kommentabel“

22. Mai In Bremen beginnt das Chorfest des Deutschen Sängerbundes (DSB). SängerInnen-Präsident Scherf erklärt: „Nach den ernüchternden Erfahrungen mit der so genannten Chorolympiade werden wir der Welt diesmal zeigen, was Singen wirklich ist: Ein großer Kanon, in dem sich alle Töne gegenseitig umarmen“

25. Mai DSB-Chef Scherf betont, dass für die Überreichung etwaiger Auszeichnungen keine Extra-Gebühren anfielen, auch die Buchung von Unterkunft sowie Hin- und Rückreise sämtlicher Teilnehmer müsse keineswegs über das Reiseunternehmen seiner Frau erfolgen. Scherf weiter: „Im Gegensatz zur Chorolympiade können wir allerdings keine Medaillen-Garantie abgeben“

26. Mai In der neuen Weserreport-Kolumne „Bernd beinhart“ polemisiert Neumann gegen die „billige Retourkutsche“ eines „wanzigen Ex-Frauenhandballmanagers“

31. Mai Der erste Bremer Opernball wird ein rauschender Erfolg, Limousinen mit dem Kennzeichen „DD“ blockieren den Ostertorsteinweg. Intendant Hans-Joachim Frey erklärt: „Nach dieser Erfahrung bin ich sicher, dass auch der Weltkulturgipfel zur endgültigen Versöhnung von Wirtschaft und Kultur gelingen wird.“ Dieser soll am 22. November in Dresden steigen

In der Nacht zum 9. Juni wird der Fäkalien-Attentäter auf frischer Tat gefasst. Überraschung: Es ist der vor kurzem verabschiedete Redakteur einer Bremer Zeitung, Volker W.! Angesichts der eindeutigen Situation bleibt ihm nichts übrig, als ein umfassendes Geständnis abzulegen. Zur Entlastung führt W. an, sich in langen Jahren der Berufstätigkeit eine periodische Diarrhöe antrainiert zu haben. „Ich habe seit Jahren von Sonntag auf Montag Durchfall, ich kann das nicht abstellen!“, klagt er

28. Juni Vor dem ehemaligen Space Park wird der „Fliegende Holländer“ aufgeführt. Trotz des musikalischen Erfolgs kommt es zu unschönen Szenen: Groninger Besucher des als „Schnäppchen-Shuttle“ bereits vor der Eröffnung überregional renommierten Einkaufszentrums protestieren gegen ihre Diskriminierung als fahrendes Volk, das im Ausland auf amouröse Abenteuer aus sei. Intendant Frey kann trotzdem resümieren: „Vielleicht sind wir noch nicht das Bregenz des Nordens, aber mindestens das bestbesuchte Musiktheater Gröpelingens“

7. Juli Pelé, UN-Sonderbeauftragter für Sport und Entwicklung, erklärt seine Absicht, Bremen zum offiziellen „Zentrum für winterliche Weitwurfdisziplinen zwecks Förderung zwischenmenschlicher Nähe“ zu ernennen. Sportsenator Lemke reagiert auffallend zurückhaltend

19. Juli Bei der Haakebeck-Badeinselregatta paddelt das Team der Bremer „Linken“ um Schwimmringbreite vor der Mannschaft der Jungen Union ins Ziel. Diese erklärt daraufhin in einem flugs verteilten Flugblatt: „Wer Mauerschützen in Schutz nimmt, manipuliert auch Badeinseln!“ Der Abgeordnete R. habe sich heimlich extralange Taucherflossen übergestreift

15. August Pünktlich zum Bundesliga-Start wird das Weserstadion in „Beluga Bowl“ umbenannt. Großreeder Niels Stolberg kündigt an, in der Ostkurve eine Luxus-Loge für den libyschen Staatschef Gaddhafi zu bauen

21. August Erstmals seit 1947 ist die Weser zugefroren. Die CDU beantragt einen Untersuchungsausschuss zur Frage, ob „der so genannte Klimawandel“ sowie „die wiederholt an die Wand gemalte Erderwärmung“ nicht doch „als potemkinsches Dorf der Grünen“ zu bezeichnen seien

11. September Auf Einladung des Innensenators besucht Gaddhafi das außerplanmäßige Freundschaftsspiel des Al-Ittihad Tripolis gegen Werder. Vor der Beluga Bowl demonstriert der bulgarische Honorarkonsul

8. Oktober Der ADAC protestiert mit einem Autokonvoi gegen das Inkrafttreten der Umweltzone in der Bremer Innenstadt. Insbesondere Dieselfahrzeuge sind zur Mitwirkung aufgefordert

22. Oktober Die Jungliberalen fordern die Bevölkerung traditionsgemäß zum Blutspenden auf und wollen, wie gewohnt, mit gutem Beispiel voran gehen. Auf Anregung von Sozialsenatorin Rosenkötter (SPD) verweigert das DRK die Annahme des liberalen Blutes als „nicht vereinbar mit unserer Verpflichtung zu politischer Neutralität“

31. Oktober Das Oberhaupt der Bremer Katholiken, Probst Ansgar Lüttel, tritt aus der Kirche aus. In einem epd-Gespräch erklärt Lüttel seinen überraschenden Schritt mit einer „Klimax päpstlicher Äußerungen“, die er nicht länger mittragen könne. Nach dem Einsatz Benedikts XVI. für die Kernkraft und der Rechtfertigung der Indio-Ausrottung habe ihn vor allem die päpstliche Verdammung der Menschenrechtsorganisation „amnesty international“ geschockt

1. November Das Bundesverfassungsgericht weist den Befangenheitsantrag gegen Richter G. zurück und stellt die baldige Terminfestsetzung zwecks Abstimmung künftiger Verhandlungstage in Aussicht. Finanzsenatorin Linnert (Grüne) erklärt nüchtern in der nordbadischen „Welle Fidelitas“: „Als Kaufmannstochter weiß ich: Zwei Fische in der Weser sind noch kein Schwarm“

11. November Die Bremerhavener FDP erklärt ihren geschlossenen Austritt aus dem Bremer Landesverband. Unter dem Namen „Freie Deichdemokraten“ (FDD) wolle man künftig „für die Entwicklung der Seestadt Bremerhaven auf der Grundlage einer deregulierten Marktwirtschaft“ eintreten. Magnus Buhlert, fraktionsloser Einzelabgeordneter in der Bürgerschaft, stellt klar: „Der demokratisch legitimierteste Liberale dieses Gemeinwesen bin immer noch ich“

24. Dezember Radio Bremen kündigt an, „buten un binnen“ künftig in Kooperation mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) zu produzieren. In einem ebenso vertraulichen wie exklusiven Hintergrundgespräch mit der taz erläutert Intendant Glässgen: „Wenn wir 51 Prozent unserer Produktions GmbH an die Bavaria Film verkaufen, spricht nichts dagegen, auch im Osten nach Partnern zu suchen. Gerade die Bremer sollten Mut zu mehr ‚buten‘ haben.“ Die Sendung mit dem Titel „Bremen und Brandenburg aktuell“ soll abwechselnd aus Potsdam und dem Faulenquartier gesendet werden