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: Schreien und Fiepen

Es gibt Nachbarn, die man hört, und Nachbarn, die man nicht hört. Ich hatte den Unterschied schon wieder vergessen. Aber jetzt sind unter mir Nachbarn eingezogen, die man hört.

Als ich nach Berlin kam, wohnte ich in einer ehemaligen Sozialwohnung, deren Wände so dünn waren wie Klarsichtfolie. Nebenan schrie eine junge Mutter. Das war lange vor der Unterschichten-Debatte. Sie schrie eigentlich den ganzen Tag. Ich glaube, meist war ihr Sohn gemeint. Immer dienstagabends wurde er abgeholt. Dann schrie sie für eine Stunde noch lauter als sonst. Ich habe irgendwann verstanden, dass das sehr sexuelle Schreie gewesen sein müssen. Es machte aber kaum einen Unterschied. Anschließend wurde es still, der Sohn kam wieder und am nächsten Morgen schrie sie weiter.

Eine Nachbarin hat mir erzählt, dass es wegen der jungen Mutter eine Schießerei vor dem Haus gegeben habe, mit Ausländern, Pistolen und Polizei. Die Ausländer hätten sich wohl um sie gestritten. Vielleicht waren es auch nur Nachbarn, die dieses Geschrei nicht mehr ausgehalten haben. So etwas liest man immer wieder in der Zeitung, dass Menschen andere erstechen, weil sie die Musik nicht leiser drehen. Ich traf die schreiende Frau manchmal auf dem Flur. Sie hatte einen schwarzen Kampfhund und sah gar nicht so laut aus.

In der Wohnung, in die ich dann mit Carla zog, war es immer sehr still, wegen der Schallschutzfenster. Nur manchmal schrie die Frau unter uns. Es war eine dicke Lesbe, die für einen Paketdienst arbeitete. Als ich die Schreie zum ersten Mal hörte, dachte ich, dass sie ganz sicher gerade stirbt. Dann fiel mir der Rhythmus auf. Auch das mussten sexuelle Schreie sein.

Das ist schon interessant, dachte ich, als ich aus dieser ruhigen Westberliner Gegend in den Osten zog: In Friedenau sehen alle ganz leise aus, und wenn es dunkel wird, fangen sie an, sexuell zu schreien. Da, wo ich jetzt wohne, wirken alle ganz laut, aber nachts ist es totenstill in meiner Wohnung. Wahrscheinlich haben die Menschen in Prenzlauer Berg immer nur an ungewöhnlichen Orten Sex und nie zuhause, sagte ich mir. Oder sie haben ohnehin schon zu viele Kinder und keine Lust mehr. Vielleicht liegt es aber auch an der Nähe zum Wedding.

Ich wohnte ein Jahr in aller Seelenruhe vor mich hin. Dann stand an einem Samstag ein Sofa im Aufzug, und wenige Tage später begann es unter mir zu klopfen. Es war ein rhythmisches Klopfen. Ich versuchte, nicht darauf zu achten. Am nächsten Morgen um elf strich unter mir ein Orchester. Dann keifte eine Frau. Sie keifte den ganzen Tag, ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Es war wie ein langgezogenes Fiepen, das für kurze Momente aussetzte. In diesen Momenten hörte ich ein Brummen, das manchmal wie Wuffwuff klang. Je länger die Frau keifend fiepte, desto länger wurden auch die Wuffwuff-Intervalle, bis dieses Wuffwuff als Bellen explodierte. Der Mann schrie zurück.

So geht das jetzt jeden Tag. Es ist wie eine Hör-Soap – ohne Worte, nur mit sehr emotionalen Geräuschen. Ich sitze an meinem Schreibtisch und höre zu. Manchmal verstehe ich Fetzen: „Du lügst, du lügst mich an!“ Ich denke: Junkies, Entzug, Alkoholismus, Affären. Ich fiebere mit. Wenn sie nicht streiten, klopft es: Techno-Musik. Es ist dann, als würde der Boden vibrieren. Ich fühle mich, als wären die Dielen ein Trommelfell und ich Hammer oder Amboss oder so was. Ich schwinge mit.

Eine Freundin sagt mir: „Du musst unbedingt mit ihnen reden. Wenn du es nicht tust, gehe ich hin.“ Aber was soll ich ihnen sagen? „Hallo, ich wohne über euch. Ich kann euch hören, wenn ihr streitet und wenn ihr Musik hört. Ich mag keinen Streit und ich mag auch diese Musik nicht. Außerdem muss ich schreiben.“

Einmal habe ich es sogar bis vor ihre Haustür geschafft. Ich stand da und dachte: Eigentlich hört es sich gar nicht so laut an. Dann ging ich wieder nach oben.

JOHANNES GERNERT