Experte menschlicher Abgründe

Humanist oder Elendspornograf? Schonungslos richtet der österreichische Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Ulrich Seidl den Blick auf die Abgründe des Menschlichen. Im 3001 sind jetzt drei seiner Filme zu sehen

Nicht berühren, sondern verstören will der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl. Die Realität mit allem, was sie so schockierend macht, den ganzen Dreck des Menschlichen auf die weiße Leinwand bringen. In langen, starren Einstellungen, mit harten Schnitten, oft mit unerträglicher Distanz. Seidl spielt mit der Schwelle zwischen Dokumentation und Fiktion, genauso wie er mit dem Publikum spielt. Er nimmt die ZuschauerIn auf seinen anthropologischen Forschungen mit in die düstersten Winkel des Sozialen und setzt sie ihrem Blick aus. Und ihren Blick dem Elend. Eine Elends- oder Sozialpornografie zu betreiben, ist Seidl oft vorgeworfen worden, bei der sich ein junges, mittelständisches Publikum seinen voyeuristischen Kick abhole. Aber Seidls unkommentierte Einblicke in die Hölle des Zwischenmenschlichen lassen sich auch als Versuch lesen, herauszufinden, wie man sich einen zärtlichen Blick auf derart hoffnungslose Zustände bewahrt. Zu überprüfen sind beide Thesen in den kommenden Tagen im 3001. Dort laufen die beiden Spielfilme Seidls, „Hundstage“ und „Import Export“, sowie der dokumentarische Film „Jesus, Du Weißt…“

Dass Seidl in jedem Fall ein Experte des zutiefst Menschlichen ist, hat er schon in seinen frühen, sich stets an der Grenze zwischen Authentizität und Fiktion aufhaltenden stilisierten Dokumentarfilmen gezeigt. „Tierische Liebe“ von 1995 etwa zeigt Menschen der Großstadt, vereinsamte Wiener, deren Ansprechpartner, Lebensgefährten und Bettgenossen Hunde, Ratten, Hasen und andere Kleintiere sind. Noch nie habe er im Kino „so geradewegs in die Hölle geschaut“, befand Werner Herzog damals. Schonungslos mit Studienobjekten wie Zuschauer ist auch „Models“ von 1998, der den Alltag zweitklassiger österreichischer Models darstellt, die zwischen Club, Wohnung und Shooting versuchen, ein glamouröses Leben zu führen, betont oberflächlich auf sexistische Fotografen und enttäuschende Beziehungen reagieren und ihre Hoffnungslosigkeit in Kokain ersticken. In Slowenien wurde der drastische Film beschlagnahmt.

„Jesus, Du weißt“, der nächste Woche von Montag bis Mittwoch zu sehen ist, ist dagegen ein stiller Film. Formal puristisch zeigt Seidl sieben gläubige Christen vor dem Altar einer leeren Kirche bei ihrem Gespräch mit Jesus, unterbrochen nur von kurzen Alltagssequenzen und Szenen, in denen etwa ein Chor vor dem Altar singt: Den jungen Studenten, der um Vergebung seiner sündigen Gefühle bittet, die er sogar beim Lesen der Bibel verspürt; die betrogene Ehefrau, die erwägt, den untreuen Gatten und die Nebenbuhlerin mit Gift auseinander zu treiben; das Paar, das nur noch in Gebeten übereinander, aber nicht mehr miteinander spricht. Ein Dokumentar-Film als Beichtstuhl, der der Dramatik der einzelnen Schicksale wegen bisweilen den Eindruck einer Fake-Doku erweckt.

Seidls erster Spielfilm „Hundstage“, zu sehen von Freitag bis Sonntag, ist deshalb auch nicht so sehr ein Schritt vom Authentischen zum Fiktiven, als vielmehr eine Weiterentwicklung der dokumentarischen Arbeit über Außenseiter. Im Unterschied zu Letzterer sind nun neben Laiendarstellern auch professionelle Schauspieler zu sehen, und Seidl reizt die Mittel von Inszenierung und Fiktion weiter aus. Angesiedelt südlich von Wien zwischen Autobahnzubringern, Einkaufsmärkten und Einfamilienhäusern während der heißesten Tage des Jahres breitet Seidl in „Hundstage“ ein Panoptikum menschlicher Existenzen aus: Einsamkeit, Verlust, Sehnsucht, Aggression, Sex und Gewalt. Die Temperaturen steigen.

Winter und Kälte sind wiederum in Seidls zweitem Spielfilm „Import Export“ die zentralen Motive, erzählerisch konzentriert sich der Film auf die sich niemals kreuzenden Geschichten der ukrainischen Krankenschwester Olga und des jungen Wieners Paul. Olga kann von ihrem Lohn ihr Kind nicht ernähren, versucht deshalb in Österreich ihr Glück zunächst als Haushaltshilfe und landet schließlich als Putzkraft in einer geriatrischen Klinik. Paul wiederum verliert seinen Job als Sicherheitsmann und muss seine Schulden begleichen, indem er mit seinem Stiefvater Spielautomaten in der Ukraine aufstellt. ROBERT MATTHIES

„Import Export“: Do, 3. 1., 22.45 Uhr; „Hundstage“: Fr, 4. 1. – So, 6. 1., 22.45 Uhr; „Jesus, Du weißt“: Mo, 7. 1. – Mi, 9. 1., 22.45 Uhr; 3001, Schanzenstr. 75; weitere Termine: www.3001-kino.de