Menschen ohne Mimik

Die „Chimären“ der Fotografin Eva Lauterlein erzählen von der Unmöglichkeit, Identität im Sinne einer eigentümlichen Essenz der Person zu vermitteln. Am Computer setzt Lauterlein ihre Porträts aus vielen Einzelfotos eines Modells zusammen, doch danach ist nicht mehr derselbe Mensch zu sehen

VON JOANNA ITZEK

Seltsame Menschen sind das, die Eva Lauterlein auf ihren Fotos zeigt. Keine auffälligen Gestalten, im Gegenteil, eher durchschnittliche Frauen und Männer zwischen 23 und 33, die Kleidung halbwegs modisch, die Frisuren halbwegs cool. Im sicheren Rahmen des Gewöhnlichen bewegt sich das alles, und trotzdem würde man keinen von diesen Typen abends im Treppenhaus treffen wollen. Morgens und mittags auch eher nicht. Denn was an den Porträtierten so verstört, sind ihre erstarrten Gesichter. Ihnen ist jede Mimik abhandengekommen. Nicht mal Restspuren von Emotionen sind übrig geblieben. Diese gespenstischen Fotos zeigen identitätslose, in sich versunkene Zombies. Die Porträts von Eva Lauterlein sind derzeit in der Reihe „Junge Schweizer Fotografie“ in der Galerie Hermann & Wagner zu sehen.

Es ist die erste Einzelausstellung der 30 Jahre alten Schweizerin aus Vevey, die ihre Geschöpfe statt Zombies lieber Chimären nennt. Also nach jenen Mischwesen aus der griechischen Mythologie, die sich laut Homer aus Schaf, Ziege und Drache zusammensetzen. In dem Begriff „Chimäre“ stecken allerdings noch weitere Bedeutungen, und die sind, wenn man irritiert vor Lauterleins Fotos steht, durchaus aufschlussreich: Chimären bezeichnen gleichermaßen Trugbilder, gedankliche Konstruktionen, die der Wirklichkeit täuschend ähnlich sind. Und in der Biologie geht eine Chimäre heute als das durch, was der Mensch mittels Gentechnik verschmolzen und ins Leben entlassen hat.

Anstelle der Gentechnik kommen bei Lauterlein die Collagetechnik und Photoshop zum Einsatz, wenn sie ihre Mischwesen baut. Das funktioniert wie folgt: Sie fotografiert einen Menschen aus verschiedenen, leicht voneinander abweichenden Perspektiven. Viele Aufnahmen von Augen, Mund, Nase und Fältchen sammeln sich dabei an, ein physiognomischer Fundus. Aus dem bedient sich Lauterlein dann und verschmilzt die Einzelteile am Computer wieder zu einem Gesicht, dem man die digitale Manipulation kaum ansieht. Selbst kleine Details wie Leberflecke und Hautrötungen schaffen es zurück auf das Endfoto. Doch gelöscht wird in diesem Montageexzess, was einmal diffus zwischen den einzelnen Teilen gelegen haben mag oder vielleicht durch das Sosein der ursprünglichen Anordnung dieser Teile konstruiert wurde: der persönliche Gesichtsausdruck. „Die Porträtierten erkennen sich kaum wieder“, sagt Lauterlein und hängt gleich noch eine Frage hintenan: „Wieso sollten sie auch?“

Wir gucken bisweilen auf Fotos, als seien sie Fensterscheiben, durch die man die Realität sieht, schrieb Roland Barthes in seinem Essay „Die helle Kammer“. Dass der Mensch auf dem Foto und der Mensch in der Welt zwei völlig verschiedene Einheiten sind, dass wir trotzdem ständig Abbild und Wirklichkeit vermischen: darauf will Lauterlein mit ihrer Chimärenserie verweisen. Originell ist das im ersten Augenblick nicht, der Diskurs, an den Lauterlein anknüpft, ist alt. Ob sich die Identität oder gar das „Wesen“ eines Menschen fotografisch abbilden lässt – die Frage beackerten bereits viele Fotografen. Eigentlich ist es die Kernfrage der Porträtfotografie. Vor allem seit dem späten 20. Jahrhundert lautet die künstlerische Antwort auf diese Frage meist „Nein“: Die visuelle Fixierung von Identität wird immer wieder als ein irreführendes Unterfangen vorgeführt.

Thomas Ruff etwa lieferte dafür in den 1980er-Jahren ein eindrucksvolles Beispiel. In nüchterner Serie fotografierte er seine Kommilitonen, die ihm vorher versprechen mussten, nicht mit der Kamera zu flirten. Stattdessen guckten sie also polizeifotomäßig in die Kamera. Wie Gipsfiguren sahen sie am Ende auf den Bildern aus. Statt Persönlichkeiten zeigen Ruffs Porträts bloße Abbilder menschlicher Oberflächen. Man prallt an ihnen ab.

Lauterleins Chimärengesichter dagegen funktionieren wie Schwarze Löcher, sie saugen den Blick des Betrachters ein, und ebendas ist schon überraschend. Dieser Effekt stellt sich ein, weil die Gesichter sich nicht lesen lassen und noch dazu jeden Blickkontakt mit dem Betrachter verweigern, indem sie es bevorzugen, in sich hinein-, oder vorzugsweise in der Gegend herumzustarren. Es bleibt in der Porträtserie „Chimeres“ nicht bei der Feststellung, dass Identität im Sinne einer eigentümlichen Essenz der Person letztlich unvermittelbar ist. Die Gesichter Eva Lauterleins präsentieren stattdessen eine kommunikative Leere, denn wo keine Mimik ist, wird auch nichts ausgedrückt. Diese Leere ist dennoch kein Nichts. Sie ist genauso berührend wie anziehend.

„Chimeres“ sind bis zum 2. Februar in der Galerie Hermann & Wagner, Koppenplatz 6, Mitte zu sehen