Der Gefangene des Kreml

Die Bereitschaft von Russlands Präsident Putin, als Premier weiter Politik zu machen, deutet auf ernste Spannungen in der Führung hin. Ob Putins Taktik aufgeht, ist fraglich

Drei Clans haben sich in den Auseinandersetzungen deutlich zu erkennen gegeben Die Ernennung Medwedjews soll dem Hauen und Stechen ein Ende bereiten

MOSKAU taz ■ Wladimir Putin hat dem Volk eine Verschnaufpause versprochen. Zum Jahreswechsel, den Russland ausgiebig bis Mitte Januar begeht, sollten sich die Bürger mal von Wahlen und Politik erholen können, meinte der im Frühjahr scheidende Kremlchef.

In den Wochen zuvor war es dafür Schlag auf Schlag gegangen. Erst ließ der Kreml in einer fragwürdigen Wahl eine handzahme Duma wählen. Dann präsentierte Putin überraschend seinen Thronfolger. Kaum war der Wunschkandidat Dmitri Medwedjew nominiert, forderte dieser Putin auf, im Falle seines Sieges als Premier die Regierung zu leiten. Ein paar Tage verstrichen, und Putin gab sein Jawort.

Die Eile und die Bereitschaft des Potentaten, weiter Politik zu treiben, deuten auf ernsthafte Spannungen in der Führung hin. Im byzantinischen Gefolgschaftswesen des Kreml spielen Status und Rang eine große Rolle. Bislang fällte Putin Entscheidungen allein oder im engsten Kreis. Inzwischen erweckt er den Eindruck eines Getriebenen, der entscheiden muss, um nicht selbst unter die Räder zu kommen.

Der Kampf um die Nachfolge wird seit zwei Jahren hinter den Kulissen geführt. Korporativer Geist und Kodex verboten es den Fraktionen aus Bürokratie und Sicherheitsministerien, interne Kämpfe öffentlich auszutragen.

Seit Herbst gilt dieser Kodex nicht mehr. Drei Clans haben sich in den Auseinandersetzungen deutlich zu erkennen gegeben. Die hastige Ernennung Medwedjews soll dem Hauen und Stechen ein Ende bereiten. Putins Taktik ist jedoch riskant. Ob es die versprochene Verschnaufpause geben wird, ist daher alles andere als sicher.

Medwedjew gehört dem Clan der Technokraten und der Bürokratie im Kreml an. Der 42-jährige Jurist ist ein loyaler Diener seines Herrn und verfügt bislang über keine eigene Hausmacht. Er gilt als eher farb-, fantasie- und initiativlos. Anders als die Vertreter der „Silowiki“, Abkömmlinge aus den Sicherheitsapparaten und Geheimdienststrukturen, die die politische und wirtschaftliche Szene Russlands beherrschen, soll der Akademikersohn aus gutem Hause in Sankt Petersburg mit den Geheimdienststrukturen nie verbandelt gewesen sein. Putin brachte ihn ins Spiel, weil sich die Interessengruppen noch am ehesten auf ihn einigen können.

Dennoch empfindet der mächtige Silowiki-Clan um den Vizechef der Präsidialkanzlei, Igor Setschin, die Nominierung Medwedjews als Niederlage. Setschin ist Aufsichtsratschef des Ölgiganten Rosneft und Kopf der sogenannten Ölpartei im Kreml. Mit von der Partie ist auch der Direktor des Geheimdienstes FSB, Nikolai Patruschew, nebst Stellvertreter. Mit spektakulären Verhaftungen versuchte die Ölpartei, den rivalisierenden Clan der Silowiki um Wiktor Tscherkessow in die Enge zu treiben. Tscherkessow ist Chef des Föderalen Drogenkontrolldienstes und ein alter Bekannter Wladimir Putins aus Sankt Petersburg. Mit einer halbautonomen Ermittlungsbehörde verfügt die Ölpartei über ein wirksames Instrument, Gegner auszuschalten. Erste prominente Opfer wurden der Vizefinanzminister Sergej Stortschak und Alexander Bulbow, ein hochgestellter Mitarbeiter im Drogenkontrolldienst. Beide sitzen seit Wochen in Haft.

„Die Verhaftungen durch den Clan haben vielen im Kreml Angst eingejagt“, bestätigte ein früherer Sicherheitsbeamter gegenüber der Moscow Times. Das geht auch aus dem Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Kremlchef Putin, Finanzminister Alexej Kudrin und Anatoli Tschubais, Chef des Elektrizitätsmonopolisten Raoees, hervor, das der Internetzeitung Jeschedewnij Journal zugespielt worden war. Die Unterhaltung muss kurz vor der Ernennung des Nachfolgers stattgefunden haben, die dort als Befreiungsschlag erscheint. Kudrin und Tschubais drängen Putin, etwas gegen die „Bruderschaft“ der Geheimdienstler zu unternehmen, bevor es zu spät sei. „Sie werden uns alle kriegen. Zuallererst aber dich, Wolodja [Putin; d. R]. Tu nicht so, als würdest du nicht begreifen, worum es geht.“

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Putin sich bereit erklärte, das Amt des Premierministers zu übernehmen. Der Setschin-Clan wollte den Kremlchef durch eine Verfassungsänderung zu einer dritten Amtszeit zwingen. Putin wehrte sich dagegen, denn er fürchtete, international Reputation zu verlieren.

Mit Ministerpräsident Putin wäre der Status quo garantiert. Zumindest für eine gewisse Zeit. Denn Doppelherrschaft entspricht nicht dem russischen Führungsprinzip, das nur eine „Sonne“ duldet. Putin hatte diesen Konflikt im Oktober selbst angesprochen. Jetzt lässt er sich darauf ein, er ist ein Getriebener. Nicht auszuschließen ist, dass man Putin noch zwingt, einen Kandidaten des Clans zu benennen. Kurzum: Der Kremlchef entscheidet zwar noch selbst, er ist aber in einem Netz gefangen, das er nicht zerreißen darf. Die Rolle des überlegenen Schiedsrichters hat er nicht mehr inne.

Sein Vorgänger Boris Jelzin zog in ähnlicher Lage radikale Konsequenzen. Wer das Gleichgewicht der Interessengruppen störte, wurde auf die Straße gesetzt. Ganz neue Kader zogen in den Kreml ein. Putin kann das nicht. Seine Mitspieler sind von ihm handverlesen und immer dieselben. Deswegen erinnert die Politik des Kreml an eine Seifenoper, die auch mit den Präsidentenwahlen nicht aus dem Programm genommen wird.

KLAUS-HELGE DONATH