Man fühlt sich kontrolliert

Auf Schnitzeljagd nach den Spuren der Nutzer: Lynne Cohens rätselhafte Interieurs in der Galerie Wilma Tolksdorf

Die Menschen sind aus den Räumen verschwunden und haben Möbel, Maschinen und andere moderne Artefakte stehen lassen, auf rot-weißen Kacheln, hinter blauen Synthetikvorhängen. Die Räume selbst sind in ein Licht getaucht, von dem man nicht weiß, woher es kommt. Man sieht keinen Eingang, keinen Ausgang und hat keine Ahnung, was hier eigentlich gespielt wird. So geht es zu auf den Raumfotos von Lynne Cohen. Für den Betrachter heißt das zunächst: klarkommen mit dem latenten Anflug von Klaustrophobie.

Seit nunmehr 30 Jahren fotografiert die 63 Jahre alte Amerikanerin Interieurs – von Spas über Klassenzimmer bis hin zu Klinikräumen. Die Serie „Find“, die derzeit in der Galerie Wilma Tolksdorf ausgestellt ist, hat Cohen letztes Jahr in der Normandie aufgenommen, genauer gesagt am Nuklearstandort Cherbourg, wo sie das Innere von Militärgebäuden ablichtete. Dort durfte sie nur deswegen rein, weil „Find“ eine Auftragsarbeit für das französische Kulturministerium war. Außerdem gibt es Bilder aus nordamerikanischen Polizeischulen zu sehen, ergänzt durch vier Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus Cohens Frühwerk. Was all diese verschiedenen Raumbilder gemeinsam haben, ist Cohens Fasziniertsein von Tiefenschärfe, von Licht und den sich daraus ergebenden Schatten im klar symmetrischen Rahmen.

Stets sind die Räume menschenleer. Genau das macht es so schwer, hinter ihre Funktion zu kommen. Unweigerlich begibt man sich als Betrachter auf Spurensuche. Irgendwer muss doch mal hier gewesen sein, irgendetwas gemacht und dabei irgendwelche Zeichen hinterlassen haben. Im Prinzip hat das Betrachten von Cohens Fotos auch etwas von einer Schnitzeljagd.

Tatsächlich entdeckt man nach einer Weile Schuhabdrücke an Wänden oder Beschriftungen am Bücherregal. Oder kleine Beulen in Metallspinden. Spuren der Aggression? Die Fotografin erzählt, dass man nach so manchem Ausstellungstag erst mal die Glasplatten, hinter denen die Fotos hängen, von Nasenabdrücken reinigen müsse. Weil sich die Betrachter auf ihrer Suche nach aufschlussreichen Details an Cohens Raumfotos die Nase platt drücken.

Immerhin wird man bei der Gelegenheit auf ein weiteres Phänomen aufmerksam: Mancher Raum wird zweidimensional, wenn man sich dem Foto nähert. Da grenzt dann Fläche an Fläche und Muster an Muster, wo man aus der Entfernung noch Tiefe sah. Es ist nicht zuletzt dieser plötzliche Verlust einer Dimension, dieses Spiel mit 2-D und 3-D, das die Räume so erdrückend wirken lässt. Und eben die Tatsache, dass es nirgendwo einen Ausgang gibt. Man fühlt sich ausgeliefert. Und man fühlt sich kontrolliert. Insofern beherbergen die Cohen’schen Räume auch stets Verweise auf Macht und Manipulation. An dieser Stelle wird gut nachvollziehbar, warum Cohen ihrer eigenen Arbeit eine politische Dimension zuspricht.

Gleichermaßen ist Lynne Cohen, die über Bildhauerei und Grafik zur Fotografie kam, im Geiste wohl eine große Freundin von Marcel Duchamp und seinen Readymades. Wie der Franzose sucht auch sie offenen Blicks Fragmente des Alltäglichen und hebt sie mit ihren Fotos in das System Kunst. Denn all die sonderbaren Räume, sosehr sie auch anmuten wie Installationen, sind nicht inszeniert. Darin liegt ihr ganzer Witz, oder besser gesagt: ihre ganze Tragik. Nicht einmal das Licht ist gesetzt. Cohen hat diese Wüsten des modernen Lebens genau so vorgefunden, die Bunker in bunter Schwimmbadästhetik und die nuklearen Verwaltungszentralen, gekleidet in Furnier. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, was für abgründige Konstruktionen der Mensch bisweilen in die Welt schleudert. JOANNA ITZEK

„Clear Arrangements“ von Lynne Cohen. Bis 26. Januar, Galerie Wilma Tolksdorf, Zimmerstraße 88, Di.–Sa. 11–18 Uhr