Friedland droht das Aus

Geschichtsträchtiges Grenzübergangslager wird womöglich geschlossen. Mehr Integrationskurse geplant. Einrichtung einer Gedenkstätte angedacht

Mit dem Begriff „Spätaussiedler“ werden all jene nach Deutschland immigrationswilligen Menschen beschrieben, die deutscher Abstammung sind, die die deutsche Staatsbürgerschaft aber noch nicht besitzen. Nach dem Bundesvertriebenengesetz gelten mehrere Kriterien für eine Anerkennung als Spätaussiedler. Entscheidend ist, dass die betroffene Person deutsche Volkszugehörige ist, ihren Wohnsitz in einem so genannten Aussiedlungsgebiet in einer der Republiken der ehemaligen Sowjetunion hatte – oder in einem anderen Staat, wo sie aufgrund ihrer deutschen Abstammung benachteiligt wurde oder unter Folgen einer solchen Benachteiligung litt – und diesen Wohnsitz nach dem 31. Dezember 1992 im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens nach Deutschland verlassen hat. Um als Spätaussiedler anerkannt zu werden muss der Wohnsitz der betreffenden Person oder der direkten Vorfahren zusätzlich seit dem 8. Mai 1945, beziehungsweise im Falle von späteren Vertreibungen seit dem 31. März 1952, in einem Aussiedlungsgebiet gelegen haben. CGI

VON REIMAR PAUL

Vor der katholischen Lagerkirche im Grenzdurchgangslager Friedland tritt der „Heimkehrer“ mit kräftigem Schritt den Stacheldraht nieder: ein Denkmal aus Muschelkalk, vier Meter Symbol und Propaganda. Vor mehr als 62 Jahren von der britischen Besatzungsmacht als „Tor zur Freiheit errichtet“, wird das Lager nun womöglich geschlossen – wegen mangelnder Nachfrage.

Nur noch 5.792 Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kamen im vergangenen Jahr im Lager Friedland an. 2006 waren dort noch knapp 7.800 Aussiedler eingetroffen. Im Jahr davor waren es rund 35.000, im Rekordjahr 1989 etwa 400.000 Aussiedler. Die meisten Spätaussiedler stammen aus Russland und Kasachstan. Sie werden von Friedland aus auf die Bundesländer verteilt. Das Lager ist die einzige verbliebene Aufnahmeeinrichtung für Aussiedler in Deutschland.

Höhere gesetzliche Hürden sind nach Ansicht der Bundesregierung der wesentliche Grund für die stark sinkenden Aussiedler-Zahlen im Grenzdurchgangslager. Anders als früher müssen Familienangehörige von Spätaussiedlern für einen Nachzug nach Deutschland heute Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen.

Einen weiteren Grund sieht der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Bergner (CDU), im „Fortfall klassischer Aussiedlungsmotive“. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in den Herkunftsgebieten hätten sich verbessert. „Es freut mich, dass inzwischen viele Angehörige der deutschen Minderheiten in ihren Herkunftsländern eine Zukunftsperspektive für sich sehen“, sagt Bergner, der auch Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium ist. In den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sowie in weiteren osteuropäischen Ländern leben noch rund 1,4 Millionen Angehörige der deutschen Minderheit.

Die sinkenden Aussiedlerzahlen haben eine politische Debatte über die Zukunft des Lagers Friedland ausgelöst. Nach Ansicht von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) soll die Einrichtung künftig noch mehr für Integrationsaufgaben genutzt werden. Aussiedler, die in Niedersachsen bleiben oder nach Bayern kommen, können in Friedland bereits jetzt Integrationskurse mit Sprachunterricht und Landeskunde absolvieren.

Mittelfristig erwägt das Land Niedersachsen, dort eine zeitgeschichtliche Gedenkstätte einrichten. Rüdiger Hesse, Referent im Innenministerium in Hannover, kündigte kürzlich einen „Ideenwettbewerb“ zu der Gedenkstätte an: „Es soll etwas Spannendes werden, kein totes Museum.“ Auf dem weitläufigen Lager-Gelände soll dafür kein neues Gebäude errichtet werden. Bereits bestehende Bauwerke wie alte Baracken, die evangelische Holzkirche, die Friedland-Glocke oder das Heimkehrer-Denkmal könnten Bestandteile der Gedenkstätte sein.

Die FDP stellt die Zukunft des Grenzdurchgangslagers Friedland gänzlich in Frage. Der Innenexperte der liberalen Landtagsfraktion, Jörg Bode, regte an, das Lager bei weiter sinkenden Aussiedlerzahlen zu schließen.

Das Lager war unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingerichtet worden, um der Flüchtlingsströme Herr zu werden. In Deutschland herrschten Hunger, Chaos und Verzweiflung. Millionen Menschen irrten über die Straßen. Die Versorgung mit Kleidung und Nahrung sowie der öffentliche Verkehr waren zusammengebrochen. Friedland, wo drei Besatzungszonen aneinander stießen und es einen Bahnhof sowie eine große Straße gab, bot sich aus Sicht der Alliierten für die Einrichtung eines Auffanglagers an.

Über Nacht wurde der Ort zum Anlaufpunkt für Hunderttausende. Schon bis Ende 1945 hatte eine halbe Million Menschen die Lagertore passiert – vor allem Vertriebene aus den ehemaligen Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße sowie entlassene Kriegsgefangene. Als erste Behelfsunterkünfte dienten Schweine- und Pferdeställe.

Im Oktober 1955 kehrten die letzten 10.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion über Friedland zu ihren Familien zurück. Alte Fotos zeigen die gezeichneten Gesichter und Körper der Entlassenen. Später fanden auch Flüchtlinge und Asylbewerber vorübergehend Aufnahme in Friedland.

Rund 3.000 Ungarn, die nach dem gescheiterten Aufstand ihr Land verlassen hatten, erreichten das Lager 1956. In den sechziger Jahren kamen verfolgte Pinochet-Gegner aus Chile, später „Boat People“ aus Vietnam oder Flüchtlinge aus Albanien.

Bis heute haben insgesamt mehr als 4,2 Millionen Menschen das Lager durchlaufen. Passend zum schleichenden Niedergang hat die Deutsche Bahn zum Jahresbeginn den historischen Bahnhof in Friedland an einen britischen Finanzinvestor abgestoßen.