Weggucken is’ nich’

Bis zum 24. Februar zeigt das Metropolis unter dem Titel „Leere Taschen“ Spielfilme und Dokumentationen zum Thema Armut. Die Eröffnungsveranstaltung macht deutlich, wie sich der Blick auf Armut verändert hat

Charlie Chaplins melodramatischer Stummfilm „The Kid“ („Der Vagabund und das Kind“) von 1921 ist ein Klassiker. Eine Mutter legt ihr Neugeborenes ab, Charlie, der Vagabund, nimmt sich seiner an und erzieht es liebevoll. Eine Kindheit in Armut, voller Mangel, aber auch voller Würde. Fünf Jahre später – die Mutter ist mittlerweile ein Opernstar – will sie ihr Kind zurück. Charlie ist arm, sie hat Geld: Ihm wird das Kind weggenommen. Keine Rolle spielt für die Behörden dabei, dass er das Kind gerettet und erzogen hat. Und das Kind selbst – wird nicht gefragt.

Was Chaplins Film auszeichnet ist, dass er einen spezifischen Blick auf die Armut wirft, einen Blick, der nicht von oben herabschaut. Deshalb bietet sich der Film für die Eröffnung der Reihe „Leere Taschen“ an, die sich im Metropolis bis Ende Februar mit den unterschiedlichen Blicken, die das Kino auf die Armut wirft, auseinandersetzen will.

Denn dass dieser Blick auch ganz anders aussehen kann, macht der zweite Eröffnungsfilm heute Abend, „Zirkus is’ nich“, deutlich. In dessen Mittelpunkt stehen der achtjährige Dominik und seine Familie. Mutter allein erziehend, Väter abwesend. Die Wohnung ist beengt, der Fernseher läuft. Die Mutter lacht nicht, sie raucht, kann sich nicht gut ausdrücken, strahlt Resignation aus. „Ich will nicht, dass meine Kinder später so werden wie ich“, murmelt sie. Gerade ist das dritte Kind geboren, Dominik hat noch eine etwa dreijährige Schwester, um die er sich kümmert. Aha, wir schauen in eine Armutsfamilie.

„Bleib stehen oder willst du überfahren werden“, maßregelt Dominik seine kleine Schwester an einer Straßenbahnhaltestelle. Er ist allein mit ihr unterwegs, wie so oft. Straßenbahnfahren ist eine der wenigen Abwechslungen für die Geschwister, die gar kein Geld für den Fahrschein haben. Aber Dominik genießt den Ausflug ins Offene, heraus aus den Hochhausschluchten von Berlin-Hellersdorf, die in den meisten Szenen so trist wirken.

Der nur gut 40 Minuten lange Film von Astrid Schult von der Filmakademie Baden-Württemberg ist voll solch markanter Szenen. Über ein Jahr hat die Filmemacherin den Kontakt zur Familie aufgebaut und sie länger ohne Kamera im Alltag begleitet. Mit der Kamera gelingen ihr dann umso genauere Bilder vom Überleben. Doch was den ganzen Film dabei wie ein roter Faden durchzieht, ist der Blick, den er auf die Armut wirft. Ein Blick stets von oben herab. Die Mutter erscheint als unselbständiges Opfer, die gestellten Fragen wirken paternalistisch bis absurd: Etwa als die Regisseurin Dominik fragt, woher er die Kraft nimmt, morgens aufzustehen. Was soll ein Achtjähriger dazu sagen? Dominik antwortet: „Sie kommt von Gott.“

Bereits im Eröffnungsdoppelprogramm macht die Filmreihe so deutlich, wie sich der Blick auf Armut im Kino seit Chaplin verändert hat: Wo Chaplin in der Diktion seiner Zeit noch Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen übte, die Armut, Entwürdigung und Ausgrenzung produzieren, stellt sich Armut bei Astrid Schult 2007 als ein persönliches, zwar betroffen machendes, aber eben vor allem nach Fürsorge rufendes Schicksal dar.

Dabei ist es sicher kein Zufall, dass Chaplin seine Sympathien für die Sowjetunion damals offen bekundete und als vermeintlicher Kommunist aus den USA vergrault wurde.

Und dass unter den AutorInnen und AkteurInnen der „Dreigroschenoper“, deren Filmfassung im Februar in der Reihe läuft, viele KommunistInnen waren. Für sie war klar, dass der Einsatz gegen Verarmung auch einer für eine andere Gesellschaftsordnung sein muss, keine reine Fürsorge. GASTON KIRSCHE

Do, 17. 1. – So, 24. 2., Metropolis, Dammtorstraße 30a