Hinschmeißen und neu anfangen

Vielleicht der derzeit klügste unter den Chronisten der Popkultur: Der britische Musikjournalist Simon Reynolds liest im Uebel & Gefährlich aus seinem tollen Buch zur Geschichte des Punk und dem, was daraus wurde

Nein, um einem kulturellen Phänomen wie, sagen wir: Popmusik überhaupt solche Tragweite zu bescheinigen, da muss man wohl schon Fan sein. Und das ist Simon Reynolds ganz sicher. Sein Fantum, gar nicht mal so selten, brachte ihn zum Musikjournalismus, über Clubkultur und Punk hat er geschrieben genauso wie über Fragen von Gender-Theorie und Pop.

Und nun hat er mal eben ein zukünftiges Standardwerk vorgelegt – allerdings eines zu einer veritablen Nische der Popgeschichte. Postpunk. Postpunk? So nennt der britische Musikjournalist und Pophistoriker nicht nur, was zeitlich auf die große Zäsur, die Punk darstellte, folgte. Genauer: Musik der Jahre 1978 bis 1984.Sondern vielmehr Musik, die eingelöst habe, was der Punk nur als Behauptung vor sich hertrug.

Die allgemein bekannten Punk-Vertreter – Sex Pistols, Clash et al. – haben für Reynolds den angeblich so verhassten Rock’n’Roll mitnichten abgeschafft oder gar überwunden, sondern vielmehr nur in Form einer Rückbesinnung auf die gute alte (einfache) Zeit wiederbelebt. Dagegen seien es ganz und gar unterschiedliche Bands gewesen – PiL, Gang of Four, Talking Heads, Devo, Throbbing Gristle, Orange Juice – gewesen, die mit wirklichen Fortschritt operierten, wo andere nicht mal mehr irgendeine Zukunft gesehen hätten.

Permanenten Wandel habe das Ethos des Postpunk gefordert, schreibt Reynolds gleich zu Beginn: „Schwarze Rhythmen, europäische Elektronik, jamaikanische Produktionstechniken bildeten das Koordinatensystem der formalen Radikalisierungen“. Dazu Texte, die in ihrer Form diesen nicht-homogenen musikalischen Aspekten entsprachen und sich nicht darauf beschränkten, „eine ‚Botschaft‘ oder Kritik zum Ausdruck zu bringen“.

Frauen- und überhaupt Geschlechterrollen seien selten so sehr hinterfragt und, na ja, dekonstruiert worden wie in jener kurzen Phase, nachdem die Iro- und Lederjacken-Fraktion in bierseligem Machismo und Anti-Intellekt versanken.

Durchaus streitbar ist das alles, aber enorm faktenreich und plausibel dargeboten auf rund 600 Seiten. Ob es zu Tumulten durch orthodoxe Punker kommt bei Reynolds’ Lesung, muss sich zeigen. Vielleicht zur Sicherheit bringt er neben seiner Übersetzerin Conny Lösch jedenfalls auch Anschauungsmaterial zum Hören und Sehen mit, die bewesen sollen, was die Zeit des Postpunk auszeichnete war – „eine Vielfalt, ein ungeheurer Reichtum an Sounds und Ideen, der dem goldenen Musikzeitalter der Sechzigerjahre in nichts nachstand“. ALEXANDER DIEHL

Di, 22. 1., 19.30 Uhr, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66