Dem Ghetto entkommen

Die HSV-Jungprofis Jérôme Boateng und Änis Ben-Hatira sowie das Wolfsburger Talent Ashkan Dejagah haben eines gemeinsam: Sie sind geprägt von ihrer Kindheit im Berliner Wedding

„Wenn mein Papa mal beim Fußball zuschaute, war das wie Geburtstag für mich“

VON HANNO BODE

„Wir sind nach den Regeln der Straße aufgewachsen“, sagt Jérôme Boateng. Der 19-jährige Verteidiger des Hamburger SV ist wie sein Mannschaftskamerad Änis Ben-Hatira, Ashkan Dejagah vom VfL Wolfsburg und Zafer Yelen von Hansa Rostock im Berliner Wedding aufgewachsen – dem Kiez, der alle Merkmale besitzt, um als Problemstadtteil zu gelten: Hohe Arbeitslosigkeit, hoher Migrantenanteil, hohe Kriminalitätsrate, niedriges Durchschnittseinkommen. Wer kann, entflieht der „Bronx von Berlin“, in der eigene, raue Gesetze gelten.

Armut und Schlägerein haben die Jugend der vier Nachwuchskicker geprägt, sie aber nicht von ihrem Weg abbringen lassen. „Wir haben schnell den Siegeswillen gelernt“, betont Yelen nicht ohne Stolz. Nun haben sie den Wedding lange hinter sich gelassen, doch, obwohl allen vier Jung-Profis eine große sportliche Zukunft vorausgesagt wird, ist ihr Kampf abseits des Feldes noch nicht vorbei. Es gilt, den vermeintlichen Makel, das Klischee der „Ghetto-Fußballer“ abzulegen. So wurde Boateng bei seinem Wechsel im Sommer von Hertha BSC Berlin an die Elbe seine Vergangenheit übel ausgelegt. Berlins Manager Dieter Hoeneß bezeichnete das Abwehr-Juwel als „gierig“ und befand, dass der Sohn eines Ghanaers und einer deutschen Mutter vergessen habe, welche Chance ihm Hertha gegeben habe.

Der ehemalige Coach Falko Götz war zuvor noch weiter gegangen und hatte die Familienverhältnisse des Profis öffentlich in einem schlechten Licht dargestellt. „Für mich war das ein Grund, den Verein zu verlassen“, sagt der 19-Jährige, gesteht aber auch freimütig ein: „Geld ist wichtig, aber nicht das Wichtigste.“

Weil auch sein Bruder Kevin-Prince Boateng den Hauptstadtclub in Richtung des englischen Premier-League-Clubs Tottenham Hotspur verließ, galten die beiden fortan in Berlin als Paradebeispiele für eine Generation von undankbaren Nachwuchs-Kickern bei der Hertha. So gab das Nachrichtenmagazin Stern Kevin-Prince Boateng den wenig schmeichelhaften Namen „Fußball-Gangster“. Einmal Wedding, immer „Ghetto-Kid“, so lautet die bittere Wahrheit für die Boatengs.

Dabei schämen sich die Nachwuchsspieler ihrer Wurzeln nicht. „Never forget where you from“ hat sich der Wolfsburger Dejagah auf seinen Nacken tätowieren lassen. Auf dem rechten Arm des Sohnes iranischer Eltern steht „Teheran“, sein Geburtsort, auf dem linken „Berlin“. Die Stadt, die der 21-Jährige als seine Heimat empfindet. Lange galt auch der deutsche U 21-Nationalspieler als Musterschüler der Nachwuchsakademie des Hauptstadtclubs.

Weil Dejagah sich jedoch einige Undiszipliniertheiten erlaubte, unter anderem eine Nacht im Gefängnis verbrachte, zog er sich den Zorn von Hoeneß zu. Die Wutreden des Managers gegen die eigenen Nachwuchskräfte waren ein gefundenes Fressen für den Berliner Boulevard. Der Angreifer wurde in die gleiche Schublade gesteckt wie die Boatengs: Einmal Wedding, immer „Ghetto-Kid“. Das Vertrauensverhältnis zur Clubführung war zerbrochen, der Ruf ruiniert. Dejagah flüchtete nach Wolfsburg. Kein besonders aufregender Platz für einen 21-Jährigen zum Leben. Aber eben einer, an dem Dejagah an seiner Zukunft arbeiten kann, ohne ständig mit seiner Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Ausschließlich für Positivschlagzeilen sorgte bislang Änis Ben-Hatira. Der 19-jährige HSV-Angreifer wirkt im Vergleich zu Dejagah und den Boatengs von seinem Auftreten her wie ein Klosterschüler, hat abseits des Rasens bislang noch für keinerlei Aufsehen gesorgt. Wohl auch, weil sich der Stürmer jeden Tag vor Augen führt, wie viel Glück er hatte.

„Mein Vater hatte einen Döner-Laden, meine Mutter hat geputzt. Wenn mein Papa mal beim Fußball zuschaute, war das wie ein Geburtstag für mich. Sie hatten kaum Zeit“, erinnert sich der Hamburger. Sein Traum: „Ich will meinen Eltern ein Haus kaufen. Sie sollen nie wieder arbeiten.“

So spricht kein Jung-Profi, der aus guten Verhältnissen kommt. Es sind die Worte eines Mannes, den seine Kindheit und die Verhältnisse des Stadtteils, in dem er aufwuchs, geprägt haben.