die taz vor 15 jahren über die grüne woche und die realität der agrarwirtschaft
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Wenn Landwirtschaftsminister und Bauernpräsident nebst Ehrengästen leicht wankend ihre Eröffnungs- und Vorkosterrunde an einem Hinterausgang des Messegeländes beenden, strömt vorne das Volk rein. Das Drängeln durchs Schlaraffenland gibt immer wieder das beruhigende Gefühl, daß alles da ist. Der Überfluß schüttet die Unzufriedenheit zu. Krise der Landwirtschaft? Den angereisten Bäuerinnen und Bauern wird eine erfolgreiche Ernährungswirtschaft unter die Nase gerieben, die aus schmuddeligen Kartoffeln, roher Milch und billigem Fleisch fantasievolle Köstlichkeiten zaubert. Und die Verbraucher, höchst verunsichert wegen Rückständen und Hormonen, werden mit immer neuen Gütesiegeln bei der Stange gehalten.

Fast 80 % der verzehrten Lebensmittel sind inzwischen industriell verarbeitet oder konserviert. Im EG-Binnenmarkt werden sie über immer größere Entfernungen transportiert. Das wird die für Nestlé und Unilever profitable Distanz zwischen Bauern und Verbrauchern vergrößern. Die EG-Agrarreform wird mit den drastischen Preissenkungen die Industrialisierung der Landwirtschaft fortsetzen. Gleichzeitig verlieren wir im Zuge der intensiven, chemisierten Erzeugungsweise die genetische Vielfalt und damit die Grundlagen einer dauerhaften und sicheren Ernährung. Im niederländischen Weizen-, Zuckerrüben- und Kartoffelanbau zum Beispiel kommen gerade noch jeweils drei fast identische Sorten aufs Feld. In Frankreich und Deutschland sind die meistangebauten und gekauften Apfelsorten importierte Standardsorten, 70 % davon der schmackhafte Golden Delicious. In der Pflanzen- und Tierzüchtung wurden zu lange die gleichen Produktionsziele verfolgt wie in der Fast-food-Branche: möglichst viel und schnell. All dies ist ein Hohn auf den Rat zur Ernährung, den Ärzte gerne gestreßten Patienten geben: weniger, abwechslungsreicher und langsamer.Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, taz 23. 1. 1993