Der Tag davor

Ein Mythos der Live-Musik ist, dass kreative Meisterleistungen dann entstehen, wenn die Umstände widrig sind. Neu untermauert wird diese Idee von dem schwedische Jazz-Trio e.s.t., das eine CD in der Hamburger Laeiszhalle aufgenommen hat

Psychologen sind am Werk, Neurologen sowieso, Kulturwissenschaftler auch. Sie alle wüssten gerne, wie es sich mit der Kreativität verhält, wie man sie ausbilden oder stimulieren oder vielleicht sogar planen kann. Nur allzu gerne hätten die Fußball-Trainer ein Programm, das den Ideenreichtum ihrer Spielmacher sicherstellt. Oder die Schriftsteller eine Methode, um Schreibblockaden aus dem Weg zu Räumen. Oder der Jazzmusiker einen Trick, in seiner Improvisation aufzugehen, einen Flow zu erreichen, der dann am Ende Kunst bedeutet, im Gegensatz zu Handwerk.

Wie das also geht, ist weitgehend unbekannt. Und doch gibt es in der Szene der improvisierten Musik einen Mythos, der besagt: Meisterleistungen entstehen dann, wenn die Umstände widrig sind. Das berühmteste Beispiel dafür lieferte der Pianist Keith Jarrett. Der wollte die Aufnahme seines Konzertes am 24. Januar 1975 in Köln eigentlich abblasen, weil der eigens ausgewählte Konzertflügel nicht angeliefert wurde und Jarrett deswegen auf dem Instrument des Korrepetitors der Kölner Oper spielen musste und außerdem in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte. Am Ende spielte dann ein übernächtigter Jarrett auf einem unliebsamen Klavier das Konzert seines Lebens: „The Köln Concert“ zählt zu den meistverkauften Jazz-Alben überhaupt.

Und nun hat das schwedische Jazz-Trio e.s.t. eine Live-CD veröffentlicht, die in der Hamburger Laeiszhalle aufgenommen wurde. Das Trio ist benannt nach dem Pianisten Esbjörn Svensson, wobei eine der Qualitäten von e.s.t. darin liegt, dass hier eine Band, und nicht ein einzelner Virtuose den Sound prägt. Klassische Bach-Phrasen stehen da neben einem Ragtime-Piano, Pop-Harmonien zum Mitsingen werden zu dissonanten Klanggebilden, beschwingter Groove wird abgewechselt von hypnotischen, treibenden Rhythmen. Es sind ausgedehnte, mitreißende Stücke, die auf Entwicklung setzten: Die Spannungsbögen sind intensiv, gleichzeitig ist das musikalische Vokabular von e.s.t. beeindruckend reichhaltig. e.s.t. war die erste europäische Band, die die amerikanische Jazz-Fachzeitschrift Down Beat auf ihr Cover genommen hat – mit der Unterschrift „Europe Invades!“

Schlicht „e.s.t. live in Hamburg“ heißt nun die CD, die das Independent-Label ACT des Musikmanagers Siggi Loch herausgebracht hat. Es ist eine Live-CD, die sich ebenfalls auf den Mythos der Meisterleistung unter schwierigen Umständen beruft: Es war ein regnerischer Tag im November 2006, als sich die Band gegen 10 Uhr morgens in Münster in ihren roten alten Mercedes-Tourbus setzte, ist im CD-Booklet zu lesen. Auf der Autobahn nach Hamburg staute sich der Verkehr und die Band nahm einen Umweg, was wunderbar klappte – der LKW mit der Verstärkeranlage allerdings verpasste die Ausfahrt, verlor sich im Stau und kam viel zu spät in Hamburg an. Der Soundcheck musste deswegen sehr, sehr kurz ausfallen, was laut Bassist Dan Berglund die Anspannung der Musiker extrem heraufsetzte. Es wurde ein furioses Konzert, an diesem 22. November 2006. Und erfreulicher Weise hatte der NDR auch noch mitgeschnitten.

Ob das Trio an diesem Abend wirklich außergewöhnlich weit über sich hinausgewachsen ist, weiß wohl nur der Tourmanager. Immerhin ist auf der Hamburger Aufnahme ein Publikum zu hören, das für hanseatische Verhältnisse ziemlich aus dem Ruder läuft: Es wird taktsicher über wilde Improvisationen mitgeklatscht und es gibt insgesamt rund fünf Minuten Hamburger Applaus, verteilt auf zwei CDs mit knapp zwei Stunden Spieldauer. Nachher, berichtet Pianist Esbjörn Svensson, hätte Siggi Loch gesagt, dass das Konzert „etwas sehr Besonderes war. Ich hatte keine Ahnung. Ich war total leer.“ Und auch das ist so eine mystische Erzählung, die immer wieder kehrt in der Welt der Meisterleistungen. KLAUS IRLER

e.s.t.: „e.s.t. live in Hamburg“ (Act)