Immer noch auf Seite 53

Bloß nicht zum Inhalt gefrieren. Im Literarischen Colloquium am Wannsee ging es am Dienstagabend um den jüngsten Roman von Thomas Pynchon, „Gegen den Tag“

Vor etwas mehr als einem Jahr erschien das neue Buch von Thomas Pynchon in den USA. Sofort wurde der 1.087 Seiten dicke Wälzer auch in Deutschland in allen möglichen Zeitungen besprochen. Man wunderte sich über die Kollegen, die es in drei Tagen lesen und darüber schreiben konnten. Interne, ick hör dir trapsen …

„Against the Day“ wurde wie das Album der wiedervereinigten Beatles gefeiert. In den begeisterten Rezensionen lag auch eine gewisse Erleichterung, denn den Vorgängerroman – „Mason & Dixon“ – hatte kaum jemand richtig gut gefunden. Er wurde schnell verramscht.

Am Dienstagabend sprachen im schönen Literarischen Colloquium am Wannsee der Medientheoretiker Friedrich Kittler, der Amerikanist Heinz Ickstadt und der Pynchon-Übersetzer Nikolaus Stingl über das neue Werk, moderiert von Denis Scheck. In der von Hans Joachim Schädlich verfassten Ankündigung des Abends hieß es: „ ‚Gegen den Tag‘: das sind 1085 engbedruckte Seiten, Hunderte von Charakteren und eine von keinem noch so versierten Leser voraussehbare Handlung, die sich in seitenlangen Exkursen auf entlegene Wissensgebiete wie die Quaternionen als Erweiterung der reellen Zahlen ergeht.“ Der Roman spielt an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert; einen Eckpfeiler bildet die Weltausstellung von Chicago 1893.

Auf der Fahrt zum Wannsee dachte ich an meine Erfahrungen mit dem Dichter, der sich – abgesehen von einem Gastauftritt bei den „Simpsons“ –, seit mehr als 40 Jahren erfolgreich weigert, anders als in Buchform an die Öffentlichkeit zu treten. Als ich Pynchon mit Ende zwanzig zum ersten Mal probierte, fand ich ihn langweilig. Später lieh ich mir von dem Pynchonverehrer Helmut Höge „Die Enden der Parabel“ aus. Jahrelang lag dieser Romanklotz vorwurfsvoll bei mir rum. Wohl auch, weil ein Klumpen Hasch in dem berühmten Buch eine Rolle spielt, pries der Haschrebell Mathias Bröckers „Gravity’s Rainbow“ überall als „das Ding“ an.

Auf den Geschmack kam ich erst in meiner Technozeit Mitte der Neunziger. Dann verschlang ich Pynchons Bücher mit Begeisterung. Vielleicht kam das daher, dass die 90er-Jahre in Berlin die 60er, aus denen Pynchon kommt, wiederholten und in der Wiederholung korrigierten. Damals gab es auch viele literaturwissenschaftliche Arbeiten über Techno-DJing und Pynchon, die sich meist mit Deleuze auf die LSD-Passagen in „The Crying of Lot 49“ bezogen.

Einen schönen Sommer lang las ich jedenfalls den ganzen Pynchon. Enttäuscht von „Mason & Dixon“, hörte ich dann wieder auf und war nun plötzlich doch sehr gespannt auf „Against the Day“. Zwei Pynchonverehrer im Freundeskreis hatten mir nämlich Wunderdinge von dem Buch erzählt. Ich selber kam mit dem Lesen nicht so recht voran und bin immer noch auf Seite 53.

Die anderen im LCB hatten das Buch aber, glaube ich, schon gelesen. Es war schön, den vier klugen Männern zuzuhören, wie sie über „Against the Day“ sprachen; sicher auch weil sie recht angenehme Stimmen haben, das LCB ein schöner Ort ist und die Experten einander höflich mit ihrem Wissen ergänzten. Die Passagen, die der Übersetzer Nikolaus Stingl vorlas, klangen super und irgendwie stimmiger als das, was ich auf Englisch gelesen hatte.

Pynchon schreibe Romane für Menschen, die nach einem Sinn in ihrem Leben suchen, sagte Herr Ickstadt. Nikolaus Stingl wusste nicht genau, worum es in dem verwirrenden Roman geht; er hob dessen Vielstimmigkeit hervor. „Wo immer etwas zum Inhalt gefriert“, werde es ungut, meine Pynchon, sagte jemand, und Hoffnung gebe es nur dort, wo man noch nicht gesettelt sei.

Für Pynchon sei es genauso „scheußlich“, Bolschewik wie Eigenheimbesitzer zu werden, betonte Friedrich Kittler, lobte Pynchons eher „altmodische“ Kapitalismuskritik, erläuterte stimmig, wie es ihm gelungen sei, die in TV und Literatur vernachlässigte dritte und vierte Dimension mit reinzubringen, und erinnerte daran, dass der Staat für Pynchon „von Beginn an“ der Feind war. Außerdem bedeute „Gegen den Tag“, gegen den Monotheismus zu sein.

Fröhlich rauchte der Medienwissenschaftler, während wir uns nicht trauten. Die in den Rauchverbotsgesetzen vorgesehenen Ausnahmeregelungen betreffen ja nur Helmut Schmidt, Christian Semler und Friedrich Kittler. In der S-Bahn auf dem Heimweg sah ich dann zum ersten Mal einen Menschen Vanity Fair lesen. DETLEF KUHLBRODT