„Motiv: Evakuierung“

Ein Dokumentarstück von Michael Batz widmet sich einem Thema, das noch weitgehend unerforscht ist: Den Suiziden Hamburger Juden zwischen 1937 und 1945. Basis der Text-Musik-Collage sind 200 Akten und etliche Abschiedsbriefe

MICHAEL BATZ, 56, Theatermacher und Lichtkünstler, erstellt seit zehn Jahren Dokumentarstücke zum Holocaust.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Batz, sind die Suizide von Juden während des Dritten Reichs noch ein Tabu? Leistet Ihr Stück also Pionierarbeit?

Michael Batz: Das Thema ist tatsächlich kaum erforscht. Es gibt bislang keine umfassende wissenschaftliche Abhandlung dazu. In Archivkreisen ist es natürlich bekannt, und über Einzelfälle weiß man Bescheid – über den ehemaligen Hamburger Staatsrat Leo Lippmann etwa, nach dem ein Saal in der dortigen Finanzbehörde benannt ist. Eine intensive Sichtung der 200 Akten im hiesigen Staatsarchiv hat bisher aber nicht stattgefunden.

Wann passierten die meisten Suizide?

Einerseits nach der Reichspogromnacht und anderseits mit Beginn der Deportationen 1941 / 1942. Infolge der Pogromnacht nahmen sich viele Akademiker das Leben – aus Verzweiflung, weil sie ihre Praxen und ihren Beruf verloren. Im Zusammenhang mit den Deportationen brachten sich dann meist ältere Menschen um, die ihr Leben nicht im KZ beenden wollten. Dies betrifft alle Hamburger Stadtteile. Die Akten dokumentieren das sehr präzise.

Der Duktus dieser Akten?

Bürokratisch bis kaltschnäuzig. Besonders die Polizeiärzte ergingen sich teils in zynischen Beschreibungen.

Ein Beispiel?

Da schreibt ein Arzt in seinem anatomischen Bericht von einer „Judennase mit geblähten Nüstern“ oder einem „älteren Mann der semitischen Rasse“. Das Prozedere im Fall eines Suizids war im Übrigen klar strukturiert: Die Polizei erstellte am Tatort einen ersten Wachbericht. Weil es sich aber um eine Kriminalsache handelte, fertigte ein Gestapo-Mann später einen zweiten Bericht mit genaueren Zeugenaussagen an. Dann wurde die Leiche abtransportiert und ins Hafenkrankenhaus gebracht. Wenn es einen Nachlass gab, wurde noch bis 1941 ein Nachlasspfleger bestellt. Später beschlagnahmte man das Eigentum der Verstorbenen einfach. Die Wohnung wurde versiegelt, und es sind ungeduldige Briefe von Vermietern erhalten, die fragen, wann sie endlich wieder vermieten können. Der Abtransport der Leichen fand übrigens am hellen Tage statt. Das ganze Viertel konnte es sehen.

Und alle wussten, dass es Suizid war?

Das war eigentlich bekannt. Manchmal war es ja auch nicht zu übersehen, weil Menschen aus dem Fenster sprangen und dann als Leiche im Hof lagen. Es gab auch andere öffentliche Fundorte, und es waren ja normale Bürger, die die Leichen fanden – am Elbufer oder auf der Außenalster etwa.

Dass diese Suizide aus Verzweiflung passierten, war bekannt?

Es war in der Regel die erste Annahme. Die Akten enthielten schon fast formelhaft den Hinweis: „Es liegt einwandfreier Selbstmord vor.“ Auf diese Formulierung wurde Wert gelegt, weil deutlich sein musste, dass es sich nicht um Fremdeinwirkung handelte und der Fall juristisch-bürokratisch einwandfrei war. Es gab auch Standardformulierungen wie „Motiv: Evakuierung“.

Einige dieser Menschen haben Abschiedsbriefe hinterlassen. Enthüllen sie mehr über die Motive?

Die Briefe zeigen, dass vor allem ältere Menschen angesichts der permanenten Drangsalierungen keinen Mut mehr hatten. Einige schrieben auch – und daher stammt der Titel meines Stücks – „Bitte nicht wecken“ oder „bitte auf keinen Fall ins Leben zurückrufen“. Sie hatten panische Angst davor, wiederbelebt und doch noch ins KZ transportiert zu werden. Andere schrieben schlicht „Ich mag nicht mehr“ oder „Ich scheide freiwillig aus dem Leben“.

Wie nahmen sich diese Menschen das Leben?

Das hing von den individuellen Möglichkeiten ab. Ärzte etwa hatten Zugang zu Morphiumspritzen. Die weitaus meisten drehten aber den Gashahn auf. Vorher dichteten sie das Zimmer sorgfältig ab, legten Fotos der Angehörigen und den Deportationsbefehl, vielleicht einen Abschiedsbrief auf den Tisch. Andere nahmen Schlaftabletten in hoher Dosierung. Manche taten beides, um sicherzugehen. Andere schnitten sich die Pulsadern auf, erschossen sich, sprangen aus dem Fenster oder ertränkten sich. Das alles geben die Akten teils sehr detailliert wieder. Es ist auch der Bericht eines Sekretärs erhalten, dessen Chef – ein Kaufmann – auf den Boden ging und sich erhängte, nachdem er einen Artikel über die Beschlagnahmung jüdischen Eigentums im Hamburger Fremdenblatt gelesen hatte. Das Original dieser Zeitung ist der Akte beigefügt.

Kollidiert der Suizid mit dem jüdischen Glauben?

Es hat sicher viele Gewissenskämpfe gegeben, die sich auch in den Abschiedsbriefen spiegeln. Und in der jüdischen Gemeinde oder unter Nachbarn ist sicher diskutiert worden, was angesichts der zunehmenden Repressionen zu tun sei. Religiöse Fragen tauchen aber in keinem der Briefe auf. Die Entscheidung zum Selbstmord war nicht mehr rational, sondern einfach der Entkräftung und Hoffnungslosigkeit geschuldet. Ich habe zwei Fälle gefunden, in denen Nachbarn die Begründung für den Selbstmord einer Jüdin lieferten: „Sie äußerte sich schon seit Wochen: Sie geht nicht ins KZ. Sie will keinen Judenstern tragen. Bevor sie das macht, macht sie Schluss.“

„Bitte nicht wecken. Dokumentarstück zu den Suiziden Hamburger Juden 1937–1945“: 28.+29.1., 18 Uhr, Hamburger Rathaus