Mitten in Neukölln

War das frech?

Alles fällt mir mal wieder viel zu spät ein. Längst habe ich höflich geantwortet, ist die ältere Passantin dankbar weitergezogen, und erst jetzt stutze ich: War ihre Frage genau genommen nicht eigentlich doch eine ganz schöne Frechheit gewesen? Muss man sich so was wirklich gefallen lassen, noch dazu nur wenige Meter von der eigenen Heimstatt am Hermannplatz entfernt?

Gewiss, ich wirke bestimmt ein wenig müde und ausgezehrt. Seit Wochen werde ich eine verschleppte Erkältung nicht los, schlafe entsprechend schlecht und fühle mich kraftlos. Der Teint ist noch blasser, als er bei dem Mangel an Sonnenlicht ohnehin wäre. Obendrein fällt mir bei nachlässiger Bartpflege meine Angewohnheit auf die Füße, niemals glatt, sondern grundsätzlich nur mit dem Langhaarschneider zu rasieren, weil das angeblich besser aussieht. Nach einer Woche sieht es auf jeden Fall nicht besser aus.

Der Treffer gestern beim Fußball, als mir der schwere Ball aus Nahdistanz ans Auge klatschte, wo der nasse Sand eine violette Schürfwunde auf dem Lid hinterließ, macht mich ebenfalls nicht schöner. Soll ich mir deshalb ein Schild mit der Aufschrift: „Nein, ich habe mich nicht gekloppt“, um den Hals hängen? Das würde immerhin den gröbsten Dreck auf der Jacke verdecken. Die könnte in der Tat mal eine Wäsche vertragen; dasselbe gilt für die Hose. Dennoch, überlege ich, während ich weiter leere Wein- und Wodkaflaschen in den Altglascontainer direkt vor meiner Haustür werfe, war diese Frau da eben ganz schön unverschämt.

Am helllichten Tag und mitten in Neukölln fragte mich die offenkundig Ortsfremde doch tatsächlich: „Können Sie mir weiterhelfen? Sie sehen so aus, als ob Sie sich hier auskennen.“

ULI HANNEMANN