Die Falle der Ästhetik

Tankred Dorst lässt seine „Künstler“ in Bremen uraufführen. Und erklärt, welche Rolle dabei sein Großvater spielt und warum er seine Stücke am liebsten auf portugiesisch sieht

Interview: Henning Bleyl

taz: Heinrich Vogeler, die Hauptperson Ihres neuen Stückes, äußerte vor der Auswanderung in die Sowjetunion: „Die Bremer sind große Schafe“. Wie ist Ihr Bremen-Bild?

Tankred Dorst: Nicht ganz so ausgeprägt. Obwohl ich immer Kontakt mit Peter Zadek hatte, auch zu seiner Bremer Zeit.

Vor zehn Jahren musste „Die Schattenlinie“ aus Ihrer Feder abgesagt werden, weil der Malersaal streikte. Was verbindet Sie außerdem mit dem Bremer Theater?

Es gab hier manche glückliche Zeit, etwa mit Peter Stein oder allgemein unter der Intendanz von Kurt Hübner. Aber welche Stücke wo aufgeführt werden, hängt ja auch immer von Zufällen ab. Immerhin habe ich hier bereits an einem Film mitgewirkt: In Zadeks „Ich bin ein Elefant, Madame“, der am Alten Gymnasium spielt. Ich war der Englischlehrer.

Jetzt gibt es die erste Uraufführung eines Ihrer Werke am Bremer Theater. War bei „Künstler“ der regionale Bezug zwingend, oder hätte das Stück auch woanders aus der Taufe gehoben werden können?

Das wäre überall möglich, es ist ja kein Stück über Worpswede. Ich will etwas Allgemeingültiges erzählen über die Utopie, Kunst und Leben miteinander vereinen zu können. Ein berühmter Künstler fühlt sich in der Falle der Ästhetik gefangen und sucht nach Auswegen. Das Stück kam nach Bremen, weil der Dramaturg meiner Bayreuther „Ring“-Inszenierung den neuen Hausregisseur des Bremer Theaters kennt und auf diesem Weg das Stück hier her vermittelt hat. Das war also reiner Zufall. Auch Klaus Pierwoß wollte immer, dass ich ein Stück über Vogeler und Worpswede mache. Aber daraus ist nichts geworden, ich habe es nicht geschrieben.

Warum nicht?

Tja. Das führt zu der Frage: Warum macht man überhaupt Stücke? Ich weiß das eigentlich nicht. Ich denke darüber nach, seit ich etwas schreiben kann, also seit ich etwa 12 Jahre alt bin. Man muss einen speziellen Zugang zu einem Stoff finden. Und das kann manchmal lange dauern.

Vogeler ist im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten geworden, Sie haben am Zweiten teilgenommen. Sehen Sie eine biografische Parallele?

Durchaus. Ich war zwar nur vier Wochen im Krieg, aber das langt, um zu wissen, was Krieg ist. Vorher hatte ich mich sogar freiwillig zu einer Art vormilitärischen Ausbildung auf einem Schulschiff in Stettin gemeldet. Da bin ich nach vier Tagen raus geflogen, weil ich während der Nachtwache gelesen habe – das war mir damals furchtbar peinlich. Später habe ich darüber ein Stück geschrieben: „Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie“.

Wer wie Vogeler die „Güldenkammer“ im Rathaus ausstatten darf, ist im Zentrum des bürgerlichen Kunstgeschmacks angekommen. Ein paar Jahre später macht er beim Worpsweder „Arbeiter- und Soldatenrat“ mit. Konnten Sie diesen Weg nachvollziehen?

Vogeler hat so eine Art „Gefühlskommunismus“ entwickelt. Er war beunruhigt über seine Neigung zur ästhetischen Idylle und empfand das Trennende, das von einer rein dekorativen Kunst ausgehen kann. Dieses Denken kenne ich aus meiner eigenen Familie. Mein Großvater, der eine Maschinenfabrik besaß, sagte immer: „Der Teppich trennt mich vom Arbeiter“. Er duldete deswegen auch keine Vorhänge im Haus. Dazu kamen die „Lebensreform“-Ideen, die mich auch immer interessiert haben, die gerade zwischen den beiden Weltkriegen sehr verbreitet waren. Mein Großvater zum Beispiel pflegte barfuß durch den Ort zu gehen.

Neben den Vogelers spielen in Ihrem Stück zwei weitere Paare eine Rolle: die Modersohns und die Rilkes. Thematisieren Sie dabei die Affinität von Teilen der Avantgarde zu faschistischen Ideen? Etwa Rilkes Verehrung für Mussolini?

Das speziell nicht. Aber diese wechselseitige Begeisterungsfähigkeit beschäftigt mich in der Tat. Bei Knut Hamsun beispielsweise hat mich immer dieser Schritt ins Bodenlose interessiert, diese ... da fehlt mir jetzt die Metapher. Aus der Beschäftigung mit Hamsun ist jedenfalls das Stück „Eiszeit“ geworden.

Wäre Paula Modersohn-Becker – in einem anderen Stück – für Sie auch eine Hauptfigur?

Nein. Ich finde zwar sehr faszinierend, dass sie sich immer mit dem Tod beschäftigt hat und mich interessiert auch diese ständige Unruhe, nicht zu genügen. Aber an sich ist Malerei nicht mein Thema. Ich habe mir gerade die Modersohn-Becker-Ausstellung in der Kunsthalle angesehen, also ihren Weg raus aus der Enge von Worpswede. Das ist alles sehr schön. Aber wenn man daneben Gauguin oder Cézanne sieht, spürt man: Das ist die eigentliche Quelle.

Als Kresnik vor fünf Jahren hier seinen „Vogeler“ uraufführte, blieb ein Haufen nasser Torf auf der Bühne zurück, natürlich auch umgestürzte Staffeleien und Fleischfetzen. Diesmal verheißt das Theater per Pressemitteilung „ein ergreifendes Ende in der kasachischen Steppe“. Trifft das Ihre Schlussbild-Intention?

Das Wort „ergreifend“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht etwas betulich. Aber man stellt sich ja manchmal die Frage: Was ist tragisch? Was mich anrührt, wenn ich Menschen betrachte, ist die vergebliche Anstrengung. Es gibt so viele, die gutmenschlich sein wollen. In der Sowjetunion sucht Vogeler die Einheit von Kunst und politischem Engagement, was sich natürlich als Illusion erweist. Als Zuschauer weiß man bereits, es wird nichts – aber er macht es gerade. Wie Sisyphus. Aus der künstlerischen Welt fällt er ins Nichts.

Ich habe auch eine Szene geschrieben, in der Vogler seinem Sohn ein Stück Tapete zeigt: ein Relikt bürgerlicher Ästhetik, das er sich immer aufbewahrt hat. Aber sein Sohn lehnt den schwärmerischen Vater rigoros ab, er ist ein linientreuer Komsomolze geworden.

Vergangenen Oktober hatte in Hannover Ihr „Ich bin nur vorübergehend hier“ mit ausschließlich alten SchauspielerInnen Uraufführung. Die „FAZ“ fand die Inszenierung „vergemütlichend“. Fürchten Sie so etwas auch bei der Umsetzung von „Künstler“?

Nein. Was ich bisher davon gesehen habe, hat mir gut gefallen, da bin ich ganz fröhlich nach Hause gefahren. Im übrigen fand ich auch die Hannoveraner Inszenierung sehr gelungen. Allerdings schaue ich mir schon seit längerem keine Aufführungen mehr an. Das hat nichts mit den Regisseuren oder den Schauspielern zu tun, das ist ein Konflikt zwischen mir und meinen Stücken – ich fühle mich sehr unwohl bei Premieren. Ich denke dann: Das habe ich aber zu flach ausgedrückt, oder: diese Stelle war ja auch beim Schreiben schon schwierig. Es ist also ein einziges Schwitzbad. „Merlin“ habe ich mir mal in Brasilien angeschaut, da war ich sozusagen durch die fremde Sprache geschützt.

Die Uraufführung von Tankred Dorsts „Künstler“ findet am morgigen Freitag, 20 Uhr, unter der Regie von Christian Pade im Neuen Schauspielhaus am Goetheplatz statt