Die Eckensteher von Kreuzberg 36

Wem gehört eigentlich die Straße? Solange man sich ignoriert, geht alles gut. Doch schon ein Blick kann Ärger bedeuten. Schnell schlägt die Ruffness der eigenen Nachbarschaft dann vom Pittoresken ins Gefährliche um

Es ist ein zeitloses, ein ursprünglich südländisches Phänomen: das Eckenstehen. Junge Männer, zwischen Pubertät und Verantwortung, stehen in Gruppen zusammen, lehnen an eine Blechkarre, rauchen, witzeln, reden, erregen sich, kratzen sich am Sack. Sie tragen diese enorm weiten Hosen und den dazu passenden Kurzhaarschnitt. Diese Weithosenmode scheint ja gar nicht mehr zu verschwinden. Seit zehn, fünfzehn Jahren geht das so, und vielleicht wäre mit knapperen Hosen schon einiges gewonnen. Noch in den Siebzigern trugen alle weite Schlaghosen und längere Haare, Fotos und Aufzeichnungen alter Schlagersendungen zeugen davon. „Migrationshintergrund“ hieß damals noch irgendwie anders.

Eine Weile standen sie vor dem Internettreff an der Ecke zur Naunynstraße. Mittlerweile ist das Rumhängen da „strengstens untersagt“, wie ein Zettel An der Tür meldet. Die Grüppchen halten sich dran und stehen jetzt versetzt in der Naunynstraße oder gegenüber vor der Fahrschule. Sie treffen Verabredungen, sie machen Straßengeschäfte, sie flachsen. Manchmal zischen sie ein „Willste was?“, meist beschäftigen sie sich mit sich selbst, solange man Passant bleibt. Nur selten, eigentlich nie, ist ein Mädchen dabei.

Schon Rolf Dieter Brinkmann, 1975 im Londoner Straßenverkehr zu Klump gefahren, hat diese Szenen beschrieben, Anfang der Siebzigerjahre, in „Rom, Blicke“: das Gehabe, die Codes und Begrüßungsrituale, das schlechte Imitieren von aus Filmen gelerntem Zuhälterverhalten. Und die dringlichen Blickverbote. Ein Blick, egal wie er kommt, gilt als Angriff. Neugier, Taxierung, visuelle Offenheit sind Tabus, Blicke werden als Kontaktaufnahme gedeutet, und Kontaktaufnahme mit Fremden bedeutet Ärger, klar.

Man muss sie behandeln wie Wespen, hieß es, als ich hergezogen war. Nimm sie für selbstverständlich, versuche sie nicht zu verscheuchen, lass sie in Ruhe, dann tun sie dir nichts. Im Grunde hat sich das bewahrheitet. Es schien, als ob das kaputte Kreuzberg 36 gemächlicher und nicht halb so hysterisch war, wie es in den Medienmassen dargestellt wurde.

Neulich an der Hochbahnstation Kottbusser Tor packte ein Typ unbehelligt ein Messer aus und betrachtete es wie ein gekauftes Buch. Er hatte nichts Böses im Sinn, das Messer war neu, die entflammte Kippe im Mundwinkel auch, der über ihm flimmernde Überwachungsmonitor beeindruckte ihn in keiner Weise. Was will man mit so einem Messer, wenn nicht Böses? Ein Küchenmesser war es nicht.

Wenn es regnet, ist die Ecke wie leer gefegt. Abends verstreut es sich, es sind immer nur wenige Stunden, die zum Eckenstehen genutzt werden. Wir gehen vorbei und suchen die Blicke zu meiden. Die türkischen Nachbarn über uns waschen immer nachts; vielleicht denken sie, hier gälte der Nachtstromtarif wie in der Provinz. Die beiden Kioskbetreiber sind grundfreundliche Menschen, sie haben neben dem türkischen einen rheinischen Migrationshintergrund. Vom Bolzplatz kommen Schreie. Ein Freund bekam neulich morgens vorm West Germany grundlos aufs Maul, es hätte jeden treffen können. Vielleicht.

Kreuzberg 36, zwischen Heinrich- und Oranienplatz, Mauerstreifen und Kotti, ist trotz schleichend einsetzender Gentrifizierung, hoher Touristendichte und einer steigenden Anzahl junger Franzosen, Amerikaner, Engländer, die sich hier Wohnungen nehmen, noch immer marode, kaputt, dreckig, verschmiert, rau und rüde. Aber auch cool, angesagt, charmant, billig und zentral. Im Grunde ist es wie mit allen Wohnorten: Irgendwas nervt immer, perfekt ist es nie, man könnte stundenlang abhassen, auch schriftlich, mag es aber doch. Ist zu Hause hier, schließlich, egal woher man kommt. RENÉ HAMANN