Maos Schüler

Andreas Lorenz und Jutta Lietsch berichten unterhaltsam und vielschichtig über die chinesische Gesellschaft kurz vor Olympia

Eines wissen die meisten Deutschen über China: In der Volksrepublik wächst die Wirtschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten in atemberaubendem Tempo. Das führt zu gesellschaftlichem Wandel, den eine Partei zu kontrollieren versucht, die nur noch dem Namen nach kommunistisch ist. Auch von Umweltproblemen, Wanderarbeitern und Menschenrechtsverletzungen haben viele schon gehört. Doch wie gehen Chinesen damit um? Was beschäftigt sie? Was finden sie gut, wogegen wehren sie sich, worüber spotten sie?

Die China-Korrespondenten Andreas Lorenz und Jutta Lietsch, die für den Spiegel und eine Reihe von Tageszeitungen berichten, liefern in ihrem Buch „Das andere China. Begegnungen in Zeiten des Aufbruchs“ nicht nur die Hintergründe zu den Entwicklungen in der Volksrepublik. Vielmehr zeigen sie an konkreten Beispielen Lebenswirklichkeit und Einstellung von Menschen, die sie auf ihren zahlreichen Reisen durch das Land getroffen haben.

Das Bild, das Lorenz und Lietsch zeichnen, ist vielschichtig und meist widersprüchlich. Hinter der Glitzerfassade der aufsteigenden Weltmacht, als die sich China bei den Olympischen Spielen im Sommer präsentieren will, wird „das andere China“ sichtbar. Zu Wort kommen Wanderarbeiter, Aidsaktivisten, Untergrundchristen, Studenten und Rechtsanwälte. Auch KP-Funktionäre und Angehörige der Mittelschicht berichten. So hält zum Beispiel der Blogger Li Jian das Internet für das größte Geschenk an die Chinesen. Er meint, seine kritischen Berichte werden nur deshalb nicht gesperrt, weil Teile der politischen Führung sich mit seiner Hilfe über die wirkliche Lage im Land informieren wollen.

Engagiert und mit Charme vermitteln Lorenz und Lietsch ungewohnte Perspektiven. Dazu bringen sie Redewendungen aus dem Volksmund, die von der politischen Kultur erzählen und das unterhaltsame Buch weiter auflockern. Den Abschluss bilden Interviews mit drei früheren Vorzeigeschülern. Sie waren als Teenager von Mao 1973 in westliche Länder geschickt worden, um dort den Kapitalismus zu studieren. Heute sind sie in China etabliert. Sie verorten sich emotional irgendwo zwischen dem Reich der Mitte und ihren früheren Gastländern, wo auch sie die Realitäten hinter den Fassaden entdeckten. „Ich hasse Karaoke, aber ich kann auch Barbecue nicht ertragen“, bringt es eine auf den Punkt. Ein lesenswertes Buch. SVEN HANSEN

Andreas Lorenz, Jutta Lietsch: „Das andere China. Begegnungen in Zeiten des Aufbruchs“. wjs Verlag, Berlin 2007, 288 Seiten, 19,90 Euro Lesungen der Autoren: u. a. 6. 2. in Berlin, taz-Café; 7. 2. in Siegen: KrönchenCenter; 12. 2. in Düsseldorf: Shuyao Teelounge