die taz vor zehn jahren über arbeitslose, die sich in deutschland organisieren
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„Vive la France!“ So deutlich sagen es die protestierenden Arbeitslosen zwar nicht. Aber in keinem Aufruf zu den gestrigen Aktionen durfte der Hinweis auf die Besetzungen von Arbeitsämtern im Nachbarland fehlen. „Solidarität mit den französischen Arbeitslosen“ – in dieser Parole schwingt das neidvolle Staunen darüber mit, was in Frankreich möglich ist. Außerdem die Hoffnung, daß die in der politischen Mitte auf dem Fundament einer großen CDU-SPD-Gewerkschaftskoalition betonierten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden mögen. Mit der Anknüpfung an die Ereignisse jenseits der Grenzen entsteht etwas Neues, das über die Arbeitslosenproteste vergangener Jahre hinausgeht – die Idee eines Europa von unten, in dem 20 Millionen Ausgesonderte ihre Stimme erheben gegen das demokratisch nicht legitimierte, stabilitätsfixierte Sparprojekt der Regierungen.

Die ökonomische Integration der europäischen Nationen samt ihrer unsozialen Kürzungspolitik verringert sichtbar die Integrationsfähigkeit des westdeutschen Nachkriegssystems, das 40 Jahre lang steigende Löhne der Arbeitenden und umfangreiche Sozialleistungen aus den Wachstumsgewinnen finanzierte. Jetzt stehen – offiziell – fast fünf Millionen Menschen draußen. Schüchtern meldet sich aus Memmingen eine Arbeitslosen-Gewerkschaft und aus Wuppertal eine Arbeitsucher-Partei. Diese Versuche mögen hilflos wirken, trotzdem sind sie eine deutlich sichtbare Reaktion auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Vor allem aus dem Osten gerät das korporatistische westdeutsche System unter Druck. Die einzige eigenständige Kraft, die die bundesweiten Proteste organisierte, ist der Arbeitslosenverband, dessen 10.000 Mitglieder vor allem in der Ex-DDR leben. Von dort kommt auch die Forderung nach der 28-Stunden-Woche. Auch wenn diese Parolen realpolitisch nicht viele Chancen haben mögen – sie attackieren den Konsens, den die Gewerkschaften mittragen.

Hannes Koch, 6. 2. 1998