Gegen den Zeitgeist

Niemand will so recht daran glauben, aber nicht erst nach dem 1:0 gegen Frankreich ist Spanien großer EM-Favorit

MALAGA taz ■ Spaniens 1:0-Sieg im Testspiel gegen Frankreich gelang zwar erst durch ein spätes Tor von Außenverteidiger Joan Capdevila, aber fütterte eine Gewissheit, die bislang niemand so recht glauben mag: Spanien gehört bei der kommenden EM zu den großen Favoriten.

Die Macht der Ignoranz hält das Pauschalurteil aufrecht, Spanien gewinne doch nie etwas. Doch wer unvoreingenommen hinschaut, wird eine Offenbarung erleben: Spanien zeigt einen letzten Rest überbordenden barocken Prunks unter den Nationalteams, die Biedermanns Nüchternheit zum Einheitsstil erkoren haben.

Sie sind die letzten Ballspieler. Sie passen und passen in Schönheit voran, von der Ignoranz unbemerkt: Spanien war 2007 mit zehn Siegen, zwei Remis und ohne Niederlage die herausragende europäische Auswahl. Schon bei der WM 2006 setzte Trainer Luis Aragonés gegen den Zeitgeist auf den altmodischen, getragenen Kombinationsfußball, während die absolute Mehrheit nur noch defensiv stabil stehen und dann blitzschnell auf Angriff umschalten will.

Seitdem zwang das Pech Aragonés dazu, das System zu verfeinern. Im EM-Qualifikationsspiel gegen Dänemark im Oktober fehlten die beiden besten Stürmer, Fernando Torres und David Villa, also agierte Aragonés nur mit einem Angreifer – und mit vier statt wie bislang zwei offensiven Ballspielern dahinter. Das 4-1-4-1-System war geboren – und etwas, was es im Fußball nicht mehr zu geben schien: eine taktische Neuerung. Spaniens Siege gegen Dänemark und später Schweden waren Ausstellungen. Die vier Ballspieler Andrés Iniesta, Cesc Fàbregas, David Silva und der Zeremonienmeister, Barcelonas Xavi Hernandez, garantierten die totale Ballhoheit.

Die Schwierigkeit des Systems wurde gegen Frankreich allerdings augenscheinlich. Der einsame Stürmer geriet in Isolation, dann passten die Ballspieler statt im Dreieck zu oft steil, um ihn zu suchen. Bei Steilpässen aber steigt die Fehlerquote. In Málaga erreichte sie erschreckende Prozentzahlen. Doch der Qualitätssprung, der mit den vier offensiven Mittelfeldspielern gelang, ist offensichtlich: Ballbesitz ist die beste Verteidigung. Spaniens aufmerksames Pressing tut sein Übriges.

Doch durch den Nebel der Ignoranz will selbst die Mehrzahl der spanischen Medien diese Werte nicht erkennen. Sie sehen nur das Trugbild, das sie selbst erschufen, ein Spanien des Chaos und der Depression. Trainer Aragonés mit seinen konfusen öffentlichen Auftritten gibt ihnen dafür auch genug Stoff. Aber mit der Wirklichkeit dieser Elf hat die Aufgeregtheit nichts zu tun: ob nun Aragonés’ Nachfolger schon vor der EM benannt oder Rekordtorschütze Raúl nicht mehr nominiert wird. Es sind Scheingefechte der Medien.

RONALD RENG