Die Fiktion frisst ihre eigenen Väter

Wo Brecht irrte und Benjamin glaubte: Der Philosoph Michael Ryklin, Gast der Humboldt-Universität, erforscht den Glauben an die Revolution

Für ein Jahr zählt die Humboldt-Uni einen bedeutenden Kulturvermittler zu ihrem „Lehrkörper“. Der neue Gastprofessor, der russische Philosoph Michail Ryklin, ist dem deutschen Publikum als subtiler Interpret der postkommunistischen Wirklichkeit und Kenner westlichen Philosophierens von Guatarri bis Derrida bekannt. Mit seinem Werk „Räume des Jubels“ hat er die Tragfähigkeit der Totalitarismustheorie kritisiert und durch brillante Analysen wie über die ideologische Funktion der Moskauer U-Bahn bestochen. Der Zeitschrift Lettre International diente er jahrelang als Moskauer Korrespondent. Am Donnerstag nun hielt Ryklin seine Antrittsvorlesung unter dem Titel „Terror und Utopie. Die Oktoberrevolution von Innen und Außen“.

Mittels sieben Thesen richtet Ryklin sein Suchgerät auf historische Wegmarken, in denen Terror und Utopie als bestimmende historische Kräfte in ihrer wechselseitigen Bedingtheit aufscheinen. Sechs seiner sieben Thesen handeln vom Blick auf das revolutionäre Russland von Außen, genauer, von der Wahrnehmung der russischen Revolution durch linke westliche Intellektuelle. Von ihrer hartnäckige Weigerung, die sowjetischen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Weshalb der inbrünstige Glaube, die im Irdischen angesiedelte Religion im Zentrum seiner Analysen steht. Ryklin nimmt den X. Parteitag der russischen Bolschewiki von 1921 zum Angelpunkt. Zeitgleich mit ihm ereignete sich der Aufstand der Kronstädter Matrosen, einst ein Stoßtrupp der Oktoberrevolution, gegen die bolschewistische „Kommissarokratie“. Auf dem Parteitag selbst setzte Lenin das Verbot durch, Fraktionen zu bilden. Deren wichtigste, die „Arbeiteropposition“ der „demokratischen Zentralisten“, die für die sozialistische Demokratie focht, vertrat eigentlich die Position der aufständischen Matrosen. Dennoch erklärten sich die „Demokratischen Sozialisten“ mit der Parteiführung und mit Lenin solidarisch. Damit stellte die demokratische Opposition ihren Glauben an die durch die Partei verkörperte revolutionäre Idee über ihre eigene Einsicht und ihr Gewissen. Das ist nach Ryklin die historische Grundkonstellation, die den Parteimanichäismus „Wir gegen Sie“ begründete.

Von 1921 blendet Ryklin auf das Jahr 1937, auf die Zeit des Großen Terrors, als Lion Feuchtwanger seinen Bericht über die Moskauer Prozesse abfasste. Ryklin zieht aus Feuchtwangers apologetischem Bericht alle Elemente zusammen, die den Prozess nicht als „hochnotpeinliches Verfahren“, sondern als eine Art Diskussion unter gebildeten Herren schildern. Auf Seiten der Staatsanwaltschaft sieht Feuchtwanger ein „sportliches Interesse“, die Kollaboration der Angeklagten mit dem Trotzkismus nachzuweisen, der seinerseits mit den Faschisten im Bunde sei. Ankläger wie Angeklagte einigt der gemeinsame Glaube an das revolutionäre Ziel, das nur durch die Partei erreicht werden kann. Auch der deutsche Schriftsteller Feuchtwanger bedient sich einer religiösen Metapher. „Sie (die Angeklagten) wollten fluchen, aber sie lobpreisten.“ Um der gemeinsamen Sache willen willigten sie in die Fiktionen der Anklage ein, ja arbeiteten sie selbst auf. Jetzt, so Ryklin, fraß die Fiktion ihre eigenen Väter. Sie stellten ihre letzte Ressource, ihren Tod, in den Dienst des Glaubens.

Die nächste Station ist Brecht. Ryklin will zeigen, dass für Brecht die Sowjetunion nichts war als eine Projektionsfläche seiner eigenen Wünsche. Wo er Fehler konstatierte, so hielt er sie für reparierbar. Nur zu gut wusste Brecht, dass seine engsten sowjetischen Freunde, voran Sergej Tretjakow, aufgrund erfundener Anschuldigungen umgebracht worden waren. Aber er legte sich ein Schweigegelübde auf. Ryklin zitiert Brecht: „Ich werde niemals gegen die Sowjetunion schreiben.“

An Ryklins Interpretation von Brechts Haltung gegenüber der Sowjetunion sind Zweifel angebracht. Sehr genau war Brecht, nicht zuletzt durch seinen Freund und Lehrer Karl Korsch, über die antiemanzipatorische Wende in der Sowjetunion informiert. Keineswegs handelte es sich bei ihm um Bagatellisierung der Folgen von Stalins „Parteimonarchie“ (Brecht). Dass Brecht dennoch unbeirrt an der Sowjetunion festhielt, war das Resultat einer Fehleinschätzung der inneren Dynamik, in deren Verlauf es gelingen werde, das diktatorische System zu überwinden. Brecht hatte zur Sowjetunion überhaupt kein säkularisiert-religiöses, sondern ein politisch-strategisches Verhältnis. Und es ist dieses Feld, auf dem sich sein Irrtum abspielte.

Das besondere Interesse Ryklins gilt dem sich wandelnden Verhältnis des Philosophen und Schriftstellers Walter Benjamin zur Sowjetunion. Ryklin stellte die Kontroverse zwischen Walter Benjamin und seinem Freund, dem Religionswissenschaftler Gershom Scholem, aus den dreißiger Jahren über die kommunistischen Neigungen Benjamins in den Mittelpunkt seiner Analyse. Scholem wirft, Ryklin zufolge, seinem Freund Benjamin vor, den historischen Materialismus religiös aufzuladen, ein Spiel mit Zweideutigkeiten zu betreiben. „Du bist ein Opfer der Konfusion von Religion und Politik.“ Benjamin beharrt darauf, dass auch jenseits der Religion religiöse Elemente ins kommunistische Denken Eingang finden können (und müssen). Allerdings ist er seit der sowjetischen Politik im Spanischen Bürgerkrieg von den Sowjets tief enttäuscht und der Hiltler-Stalin-Pakt beendet diese lange, wenngleich einseitige Bindung.

Ryklins Analyse der Haltung Benjamins war sicher der spannendste Teil seiner Lesung. Er will seinen Berlin-Aufenthalt nutzen, um eine entsprechende Monografie zu vollenden. Wir dürfen gespannt sein.

CHRISTIAN SEMLER