Henkel trocken

Nach dem Sprint gewinnt Biathletin Andrea Henkel auch die WM-Verfolgung. Titelverteidigerin Magdalena Neuner grantelt indes

AUS ÖSTERSUND ANDREAS MORBACH

Den Zuschauern in der vollbesetzten Östersunder Biathlon-Arena muss das gestrige Verfolgungsrennen der Frauen wie eine Endlosschleife vorgekommen sein. Eine halbstündige Aufführung in vier Akten – und am Höhepunkt eines jeden Aktes, der Schießeinlage, bot sich stets dasselbe Bild: Eine kleine Frau mit roter Mütze und gelbem Trikot rutschte als Erste und allein auf weiter Flur vor den Schießstand Nummer eins, um die fünf Scheiben mit atemberaubender Präzision abzuräumen. Und erst, als Andrea Henkel ihr Gewehr wieder auf den Buckel schnallte, kam die Konkurrenz daher.

Zunächst war es Albina Achatowa, später Ekaterina Iouriewa, die sich am hartnäckigsten an Henkels Fersen heftete. Allerdings vergeblich, für Iouriewa blieb nur Silber, für Achatowa Bronze. Bundestrainer Uwe Müssiggang beobachtete die frustrierende Hetzjagd der Russinnen recht entspannt durch sein Fernrohr und zollte der 30-jährigen Weltmeisterin nachher „höchsten Respekt“. Henkel, nach ihrem WM-Titel im Sprint vom Samstag mit 13 Sekunden Vorsprung ins Rennen gegangen, erwies sich als würdige Trägerin des Gelben Trikots der Weltcup-Führenden. „Sie war hier nie auf der Flucht, sondern hat einfach ihr Rennen gemacht“, lobte Müssiggang, der ahnte: „Da kam ihr sicher ihre große Erfahrung zugute.“

Eine Routine, mit der sich die Sportsoldatin aus Großbreitenbach am ersten WM-Wochenende vor allem vom deutschen Biathlon-Wunder Magdalena Neuner abhob. Im Vorjahr hatte die fidele Bayerin bei ihrem WM-Debüt sensationell die Einzeltitel in Sprint und Verfolgung gewonnen, nun wurde sie von ihrer neun Jahre älteren Teamkollegin in beiden Disziplinen entthront. Dabei ebnete Neuner ihrer Nachfolgerin an ihrem 21. Geburtstag am Samstag ungewollt den Weg: Vier von fünf Scheiben verfehlte sie beim Schießen aus dem Stand, am Ende war Neuner im Sprint nur 17. – und die Freude, dass daraus in der Verfolgung noch Rang sechs wurde, hielt sich hörbar in Grenzen.

„Es macht keinen Spaß, immer wieder zu erzählen, woran es lag – weil ich nie eine Antwort darauf habe“, erklärte die Wallgauerin gestern ungewohnt patzig. Ihre Hoffnung legt Neuner („Es wäre schon schön, wenn ich da mitlaufen dürfte“) nun darauf, dass Uwe Müssiggang sie neben der gesetzten Sabrina Buchholz für die morgige Mixed-Staffel nominiert. Das würde zu der zentralen Erkenntnis des Bundestrainers nach dem Neuner-Debakel vom Samstag passen, als Müssiggang dämmerte: „Sie braucht noch Wettkämpfe.“

Je mehr es werden, umso besser. Deshalb hatte Magdalena Neuner vor der Abreise nach Östersund auch noch rasch an der Junioren-WM in Ruhpolding teilgenommen. Nun muss sie sich nach ihrem rasanten Aufstieg im vergangenen Winter zur Abwechslung eben auch ein wenig in Geduld üben. „Sie braucht Zeit, um wieder locker zu werden“, weiß Müssiggang, der fürs Erste schon froh darüber war, dass Neuner in der Verfolgung nicht mehr gar so überdreht war wie am Vortag. Null Fehler beim ersten Stehendschießen, zwei beim zweiten – ein deutlicher Fortschritt. „Sie hat sich heute etwas getraut und ihre Hemmschwelle ein bisschen überwunden“, stellte Müssiggang beruhigt fest.

Die größte Hemmschwelle für Andrea Henkel liegt nicht im Umgang mit dem Gewehr, sondern im Umgang mit der Öffentlichkeit. Nach ihrem fünften WM-Titel bemühte sich die Doppelolympiasiegerin von Salt Lake City nach Kräften, ihr Henkel-trocken-Image zu korrigieren. Bei der Pressekonferenz scherzte sie mit den russischen Medaillengewinnerinnen, sie erzählte von den Ohrenstöpseln, die ihr im deutschen Mannschaftsquartier – direkt neben einer Diskothek gelegen – jede Nacht hervorragende Dienste leisteten. Und sie gab einen Einblick in ihre Siegesfeiern mit der Kollegin Martina Glagow. „Am Samstag haben wir ein bisschen getrunken. Und heute werden wir noch ein bisschen mehr trinken.“ Henkel halbtrocken sozusagen.