Wirtschaft befürchtet Energienotstand

Handels- und Handwerkskammern besorgt: Ab 2020 sei das Stromangebot in Norddeutschland kleiner als die Nachfrage. Eine Studie im Auftrag des Zukunftsrates sagt das Gegenteil voraus. Knackpunkt sind die Einschätzungen zur Offshore-Windkraft

VON GERNOT KNÖDLER

Ab dem Jahr 2020 drohen „die Lichter in Norddeutschland auszugehen“. Mit diesem Schreckensszenario haben sich gestern die unter „IHK Nord“ firmierenden 14 norddeutschen Industrie- und Handelskammern an die Öffentlichkeit gewandt. Mehr als 90 Prozent der heute im Norden verfügbaren Kraftwerksleistung werde bis 2030 vom Netz gehen, ermittelten die Handelskammern. Neubauten würden den Verlust bis 2020 überkompensieren. Danach aber drohe eine Unterversorgung. Eine Studie, die der Zukunftsrat im Sommer vorlegte, hatte dagegen für 2020 eine Überproduktion von 128 Prozent vorausgesagt: Es werde gar 2,3-mal soviel erzeugt wie verbraucht (taz berichtete).

Die diametral einander entgegengesetzten Prognosen ergeben sich aus den unterschiedlichen Annahmen. Die IHK Nord geht davon aus, dass der absolute Energieverbrauch konstant bleibt. Sie rechnet die Offshore-Windenergie nicht ein, geht von langen Genehmigungszeiten aus und davon dass ein Viertel der geplanten Projekte nicht umgesetzt wird.

Die Kammern gehen bei konstantem Energieverbrauch von einem Wirtschaftswachstum in der Größenordnung von zwei Prozent aus, so dass der Energieverbrauch pro erwirtschaftetem Euro sinken würde. Wirtschaft und Haushalte würden zwar effizienter mit Energie umgehen, wegen des steigenden Wohlstands bliebe der absolute Verbrauch aber gleich. Dagegen wiesen die Firma Arrhenius Consult und das Bremer Energie Institut, welche die Studie für den Zukunftsrat erstellten, darauf hin, dass nach den existierenden EU-Einsparungsrichtlinien der absolute Energieverbrauch um 13 Prozent sinken müsste.

Die IHK Nord unterstellt, dass ein Viertel der in Norddeutschland geplanten Kraftwerksprojekte mit einer Leistung von jeweils mehr als 100 Megawatt nicht gebaut werden wird. „Wir wissen schon heute, dass Projekte in einer Größenordnung von rund 4.100 Megawatt in der jüngsten Vergangenheit bereits in der Genehmigungsphase gescheitert sind oder auf der Kippe stehen“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg, Hans-Jörg Schmidt Trenz, am Montag.

Der Arrhenius-Studie zufolge werden die auch gar nicht gebraucht. Allein die Windparks auf See würden 2020 zwei Drittel des Stromverbrauchs in Norddeutschland decken können. Mit 59.000 Gigawattstunden produzierten sie pro Jahre mehr Strom als heute die Atomkraftwerke.

Die IHK Nord ist weniger optimistisch: Sie hält derzeit nur den Bau von Offshore-Windparks mit insgesamt 2.400 Megawatt installierter Leistung für wahrscheinlich. Weitere 30.000 Megawatt könnten auf hoher See installiert werden, wenn alle geplanten Parks gebaut würden, sagen die Kammern.

„Die Realisierungschancen dieser Anlagen sind jedoch nur sehr schwer einzuschätzen, so dass wir seriöserweise auf deren Einberechnung im Rahmen der Untersuchung verzichtet haben“, so Schmidt-Trenz. Vor allem müsse der Strom der Offshore-Windparks ja in das Stromnetz an Land gespeist werden, wofür Leitungen gebaut werden müssen. „Gerade hier sind die Widerstände dieselben wie gegen Kraftwerksbauten“, sagte der Handelskammer-Chef.

Auch dass viele kleine Windräder, Biogasanlagen und Blockheizkraftwerke in Zukunft dezentral die Stromversorgung gewährleisteten, könne heute noch nicht vorausgesetzt werden, sekundierte Ulrich Brehmer von der Handelskammer Hamburg. Diese Technologien würden zwar von den Industrie- und Handelskammern unterstützt. Es müsse mit voller Kraft in die Erforschung und Entwicklung Erneuerbarer Energien investiert werden, bekräftigte der Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Bremen, Matthias Fonger. Allein darauf verlassen wollten sie sich jedoch nicht.

„Nennen sie es eine Doppelstrategie“, sagte Schmidt-Trenz. Allein weil der zu erwartenden Steigerung der Preise für fossile Energie und auch wegen der Endlichkeit des Urans müsse die Entwicklung erneuerbarer Energien vorangetrieben werden. Für eine Übergangszeit sei aber der Bau neuer konventioneller Kraftwerke und eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke nötig, um eine sichere und günstige Energieversorgung zu gewährleisten, die es den Unternehmen ermögliche wettbewerbsfähig zu bleiben. Gerade das produzierende Gewerbe sei darauf angewiesen, dass es seine Energieversorgung auf lange Sicht planen könne. Innerhalb der EU müssten die Lasten beim Klimaschutz gleichmäßig verteilt werden.