Crazy Weather

Rückwärts im Kalender

„Knut welcomes Flocke“ hat jemand sorgfältig auf die lange Reihe Betonsäulen gesprüht. Bei der letzten Berlinale stand genau da „Welcome Knut“, man wunderte sich noch. Das war vor einem Jahr, im tiefsten Winter, aber jetzt ist alles anders.

Kommt man zum Beispiel aus einem Eifersuchtsdrama in der Helsinkier Gynäkologinnenszene und tritt dann auf die Straße, ist die Luft mild und warm. Betäubt vom Film, ordnet man sich in die Fußgängerströme ein, und plötzlich ist alles ganz weihnachtlich. Die goldenen Kugeln an den Laternen, die Lichtlein in den Bäumen – ein unschöner Zeitsprung rückwärts im Kalender. Was soll das denn, diese Weihnachtsstimmung in lauer Luft, das passt doch alles nicht!

Hat man aber vor dem Berlinale-Palast die Roter-Teppich-Betriebsamkeit umschifft und will durchs Treppenhaus zu den Pressefächern, explodiert ringsum auf einmal der Frühling: Tulpen blühen in Pastell zwischen lindgrünen Stängeln, Hyazinthen in zartestem Rosa und übertriebenem Blau – trotz der ausgeleuchteten Künstlichkeit kommt eine Ahnung von Frühling auf.

Nur nachts dann, nach dem letzten Film, wenn man ganz erledigt ist nach Missbrauch in San Diego und Geschlechtsumwandlungen in Teheran, wenn man dann noch irgendwo ruhig sitzen und nachdenken und ein bisschen reden will und zum Zigarettenrauchen nichts bleibt als die Heizpilze im Sony Center, dann ist auf einmal wieder tiefster Winter. CHRISTIANE RÖSINGER