Hitmarke Händel

Mittendrin in der medialisierten Gegenwart: Der junge Regisseur Benedikt von Peter und der Dirigent Alessandro de Marchi schaffen es in der Komischen Oper, aus Händels „Theseus“ ein Hauptwerk des postmodernen Musiktheaters herauszuschälen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Der eiserne Vorhang ist geschlossen, sechs junge Leute, drei Frauen, drei Männer, schnappen sich Plastikstühle, reden unverständliches Zeugs in allen möglichen Sprachen, irgendjemand hat sie zum Casting bestellt. Sie warten. „Was auch immer geschieht“, beginnt eine von ihnen zu singen, einen Popsong aus der Retorte, den sie noch ein bisschen üben muss. Unten hat das Orchester schon mal die immer passenden, unendlich trivialen Kadenzen gecheckt. Der Sound stimmt, die Videokamera ist in Stellung gebracht, sie fixiert das Promofoto eines der Kandidaten: Latin Lover der gewalttätigen Sorte.

„Theseus“ heißt er, man ahnt es, weil es auf dem Programm so steht. Musik von Georg Friedrich Händel, Inszenierung: Benededikt von Peter, gerade mal 30 geworden. 295 Jahre liegt die Uraufführung zurück, aber das ist vollkommen unwichtig. Wir sind mittendrin in der total medialisierten Gegenwart, in der alle Popstars werden müssen, um das Leben auszuhalten, das paradoxerweise verlangt, ganz privat und individuell genauso glücklich zu sein wie alle anderen.

„Wie herrlich ist es, zu lieben“, singt Marina Rebeka, jetzt schon mit voller Stimme, und begleitet von den Instrumental-Samples der Hitmarke „Händel“. Nein, es ist nicht herrlich, zu lieben, obwohl die Sache mit dem privaten Glück für die Kandidatin Rebeka in der Rolle der „Agilea“ am Ende ganz gut aussieht. Dreieinhalb Stunden werden bis dahin vergehen, von denen man keine Minute verpassen möchte. Wahrscheinlich bieten sie das beste Theater, das zurzeit in der Stadt zu sehen ist. Fast beiläufig, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, schließen von Peter und sein Team (Natascha von Staiger, Bühne, Katrin Wittig, Kostüme) die extreme, sonst nur historisch verstehbare, stereotype Künstlichkeit der Händel’schen Musiksprache kurz mit dem ebenso extremen Realismus von Fernsehserien wie „Dschungelcamp“ oder „Big Brother“.

Man soll sich nicht täuschen lassen. Hinter der universal vermarktbaren Medienrealität stecken tief verletzte Seelen, die ebenso verstört wie hoffnungslos nach Ordnung und Sicherheit suchen, nach haltbarem Familienglück und Sinn in einer vollkommen sinnlosen und brutalisierten Welt.

Erst im zweiten Akt gibt die Bühne den Blick darauf frei. Der eiserne Vorhang fährt hoch, zu sehen sind knöcheltiefer Schlamm und die zerschossene Ruine einer armseligen Slumhütte. „Schlachtfeld“ steht darüber, später heißt dieselbe Szene „Wüste“, dann wird sie zur paradiesischen Urlaubsinsel, am Ende zum „Palast“. Der Schlamm bleibt, bis zuletzt klebt er an Kostümen und Gesichtern. Er ist echt.

Eine Zumutung für die Solisten, aber nicht für Händel. Unter der historisch korrekten Leitung des Barockspezialisten Allessandro de Marchi klingt diese Musik, als sei sie schon immer für eine solche Welt geschrieben. Sie ist nicht komponiert, sondern montiert aus konventionellen semantischen Elementen. Alle, auch die Männer, singen in Sopranlagen. Ihre nach dem immer gleichen formalen Schema gebauten Arien machen Gefühle identifizierbar, aber sie schildern sie nicht. Sie stauen sich hoch, scheitern, oder drehen komplett durch wie im Liebesduett des Titelhelden mit seiner Agilea, das sich in rasend schnellen parallelen Koloraturen zu Tode hetzt.

Gewiss kündigte sich darin auch der Anspruch des bürgerlichen Subjekts auf sein privates Liebesrecht an, aber Händel glaubte nicht daran. Er behielt recht, wie man jetzt sieht, und prototypisch dafür steht die Figur der Medea. Sie, nicht Theseus, der Kriegsheld, ist die Zentralfigur. Selbst sie sucht nur nach Liebe, aber sie ist eine Mörderin und Hexe, die an den Hof von Ägeus nach der Ermordung ihrer Kinder geflohen ist.

Stella Doufexis lebt in dieser Rolle geradezu im Schlamm des Schlachtfelds, schon ihre Auftrittsarie reißt auch bei Händel eine andere Dimension auf. Mächtige Streicherstakkatos untermalen eine bedrohliche, erbarmungslos langgezogene Melodie. Kriege können längst nicht mehr gewonnen werden, aber auch die Liebe ist unmöglich, eine Sache für Popsternchen wie Agilea, oder Clizia und Arcane, das Nebenpaar, gesungen von Karolina Andersson und David DQ Lee. Sie schaffen es alle irgendwie, vom Glück gecastet zu werden, und haben sich auf dem Schlammfeld in der Hütte so weit eingerichtet, dass sie eine immerwährende Promiparty feiern können, samt König Ägeus (Hagen Matzeit), der Theseus, seinen Rivalen bei Agilea, als verlorenen Sohn erkennt, und zufrieden vors Haus geht, um in den Schlamm zu scheißen. Händels Sounddesign plätschert dazu sanft vor sich hin, Medea aber holt einen Benzinkanister, um gleich die ganze Welt abzufackeln.

Natürlich hätte sie alles Recht dazu, denn für das Glück der anderen zahlt sie mit Demütigung und Täuschung, aber es ging schon bei Händel nicht. Die Göttin Athene greift ein, die es bei von Peter und de Marchi nicht mehr gibt. Stattdessen brummt eine Fliege in den Surround-Lautsprechern, die man nur totzuschlagen braucht. Schlammverkrustet steht Medea dabei, grinsend. Eiserner Vorhang, die Show ist im Kasten – und eine Oper wiedererstanden, die man so schlicht als Hauptwerk der Postmoderne einordnen kann.

Nächste Aufführungen: 15. und 24. Februar, 3., 14., 22. und 29. März