Schwerins Stadtoberhaupt wackelt

Das Schweriner Stadtparlament will einen Bürgerentscheid beschließen, mit dem CDU-Oberbürgermeister Norbert Claussen abgewählt werden kann. Vorgeworfen wird ihm seine Zurückhaltung im Fall der verhungerten Lea-Sophie

Im November 2007 hatte der Fall von Lea-Sophie für Aufsehen gesorgt. Die Fünfjährige, die vor ihrem Tod nur noch 7,4 Kilo wog, war in der Nacht vom 21. auf den 22. November in der Schweriner Helios-Klinik an den Folgen von Unterernährung und mangelnder Flüssigkeitszufuhr gestorben. Ihr Vater hatte sie am 21. November in die Klinik einliefern lassen. Eine Ärztin, die sie nach der Einlieferung sah, sprach damals gegenüber der Schweriner Volkszeitung von „Hungerödemen“, „offenen Wunden“ und Haaren, die dem Mädchen „büschelweise ausfallen“. Nur zwei Wochen vor Lea-Sophies Tod hatten zwei Mitarbeiter des Schweriner Jugendamtes ihre Familie aufgesucht und „keine Auffälligkeiten“ festgestellt, so der Schweriner Sozialdezernent Hermann Junghans. Später stellte sich heraus, dass sie das Mädchen gar nicht gesehen hatten. Junghans’ Behörde wurde in Folge des Falls schleppende Aufarbeitung vorgeworfen.  taz

von DANIEL WIESE

Selbst abwählen können sie ihn nicht. Aber die Unzufriedenheit der Schweriner Stadtverordneten mit ihrem direkt vom Volk gewählten Oberbürgermeister Norbert Claussen (CDU) ist so groß, dass sie einen Bürgerentscheid planen. „Wir wollen einen Antrag stellen und auch eine namentliche Abstimmung beantragen“, sagt Grünen-Fraktionschef Manfred Strauß. Die Fraktionen von SPD, PDS und Unabhängigen Bürgern haben bereits angekündigt, für den Bürgerentscheid stimmen wollen. Damit wäre die geforderte Zweidrittelmehrheit im Stadtparlament erreicht.

Claussen hatte die Abgeordneten zuletzt wegen seines zögerlichen Verhaltens im Fall Lea-Sophie gegen sich aufgebracht. Das Mädchen war im November in der Obhut seiner Eltern verdurstet und verhungert, obwohl das Jugendamt von den Großeltern gewarnt worden war. Claussen sei nach dem Tod des Mädchens erst einmal drei Wochen in den Urlaub gefahren, sagt Grünen-Fraktionschef Strauß. Und erst jetzt habe Claussen sich für seine damalige Bemerkung entschuldigt, Schwerin habe mit dem Fall Lea-Sophie „Pech gehabt“.

Zum Verhängnis könnte dem Oberbürgermeister werden, dass er zu lange an seinem Sozialdezernenten Hermann Junghans (CDU) festhielt. Der hatte gleich nach dem Todesfall verkündet, es gebe keine Hinweise, dass das ihm unterstellte Jugendamt Fehler gemacht habe. Im extra eingesetzten Untersuchungsausschuss der Stadtvertretung hatte sich Junghans dann mit dem Hinweis „das kriegen Sie von mir schriftlich“ geweigert, Fragen zu beantworten. Am 25. Februar wollen die Stadtverordneten über seine Abwahl entscheiden. Seine Amtsgeschäfte lässt der CDU-Dezernent bereits seit einer Woche ruhen.

Doch Junghans’ Kopf reicht den Stadtvertretern nicht mehr. „Wir haben uns die Entscheidung für den Bürgerentscheid nicht leicht gemacht“, sagt SPD-Fraktions-Chefin Manuela Schwesig. Die SPD regiert in Schwerin zusammen mit CDU und PDS in einer „stillen Koalition“ – es gibt keinen Koalitionsvertrag, aber wechselnde Mehrheiten, und jede Partei stellt einen Dezernenten. Die Stadt Schwerin sei durch das Verhalten von Claussen in eine „schwere Vertrauenskrise“ geraten, sagt Schwesig. Die SPD setze darum auf einen „personellen Neuanfang“.

Der Oberbürgermeister hätte gleich nach dem Tod von Lea-Sophie erkennen müssen, dass im Jugendamt vieles falsch gelaufen sei, bemängelt die SPD-Abgeordnete. Stattdessen habe er zugesehen, wie sein Dezernent über Wochen „gar nichts gesagt hat“. Erschwerend komme hinzu, dass schon vor dem Tod Lea-Sophies Mitarbeiter des Jugendamts berichtet hätten, dass sie sich überfordert fühlten. Von diesen Berichten habe Claussen gewusst, so Schwesig: Sie seien auch noch just zu dem Zeitpunkt aufgetaucht, als die Medien über die ebenfalls durch die Eltern zu Tode gekommenen Kinder Jessica und Kevin berichteten. „Da muss ich mich doch mal fragen, Mensch, wie ist das denn bei uns“, sagt Schwesig.

Schon länger seien die Schweriner mit ihrem Oberbürgermeister unzufrieden, heißt es aus der SPD-Fraktion, und dass Claussens Verhalten im Fall Lea-Sophie nur der „traurige Höhepunkt“ sei. Die Linke, die als zweitstärkste Partei mit im inoffiziellen Regierungsboot sitzt, hält sich dagegen etwas bedeckt. „Keiner von uns kann sich rausreden“, sagt Linken-Fraktionschef Gerd Böttger. Aber Claussen habe sich ungeschickt verhalten, die Unzufriedenheit mit seiner Amtsführung sei groß. „Wenn sie von denen, die Sie wählen, Signale empfangen: ‚Jetzt muss der Claussen weg‘“, sagt Böttger, „dann müssen Sie etwas unternehmen.“ Die CDU-Fraktion, die stärkste im Stadtparlament, hält derweil weiterhin zu ihrem OB.

Längst haben Ausschüsse und Kommissionen ihre Berichte vorgelegt, im Schweriner Jugendamt sind eigens zwei neue Stellen geschaffen worden, die Kommunikation zwischen den Sozialarbeitern soll verbessert werden. Doch der Fall hat längst eine Eigendynamik entwickelt. „Claussen kann so nicht weiter machen“, sagt Böttger. Wie der Bürgerentscheid ausgehe, sei allerdings ungewiss. Nach der Kommunalverfassung von Mecklenburg-Vorpommern muss wenigstens ein Drittel der Wahlberechtigten daran teilnehmen. Davon müssten wiederum zwei Drittel den Oberbürgermeister abwählen.

Norbert Claussen lässt seinen Pressesprecher alle Vorwürfe zurückweisen. Er habe gleich am ersten Tag gesagt, „dass die Mechanismen offenbar nicht ausgereicht haben, wenn am Ende der Tod eines Kindes zu beklagen ist“. Im Übrigen werde er sich „dem Votum der Bürgerinnen und Bürger“ stellen, wenn die Mehrheit des Stadtparlaments dies wünsche: „Die Schweriner haben mich gewählt, und nur sie können darüber entscheiden.“