36 Kilo – und dann noch joggen

Dass Essgestörte dringend Hilfe brauchen, ist bekannt, auch dem rot-grünen Senat. Doch mehr als warme Worte zum Thema gibt es nicht. Seit Jahren fehlen Beratungsangebote und Therapieplätze

von Eiken Bruhn

„Verflixte Schönheit“ heißt die Veranstaltungsreihe, mit der Stadtbibliothek und Mädchenhaus seit gestern auf das Thema Essstörungen aufmerksam machen wollen. Neu ist an dem, was die Expertinnen und Betroffenen erzählen werden, nichts: Fünf bis 15 Prozent der Magersüchtigen sterben, Bulimikerinnen ruinieren sich durch das häufige Erbrechen Zähne und Schleimhäute, Übergewichtige leiden an Herz-Kreislauferkrankungen. Überraschen wird auch niemand, dass vor allem junge Frauen gefährdet sind: Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts zeigt jedes dritte Mädchen zwischen elf und 17 Jahren Symptome einer Essstörung, bei Jungen derselben Altersgruppe sind es 15 Prozent.

Weniger bekannt ist offenbar eine weitere Erkenntnis: „Essstörungen lassen sich in einem frühen Stadium sehr gut behandeln“, sagt Margrit Hasselmann, im Bildungsressort zuständig für Suchtprävention. De facto ist sie eine von zwei Bremer Beratungsstellen für Essgestörte, die andere ist das Mädchenhaus, beide sind hoffnungslos überlaufen.

Hasselmann fordert seit langem eine zentrale Anlaufstelle. Nicht nur für Mädchen, sondern auch für ältere Frauen, Jungen und Männer sowie Angehörige. Ihre Hoffnung: Dass jeder und jede, die Anzeichen einer Essstörung bei sich oder anderen erkennt, den Weg zu einer solch niedrigschwelligen Beratungseinrichtung und schnelle Hilfe findet. Dass diese gebraucht wird, hat Hasselmann zufolge das von ihr initiierte Projekt in der Neustadt gezeigt – das 2004 nach einem Jahr wegen mangelnder öffentlicher Unterstützung wieder schließen musste.

Eine Wiedereröffnung steht nicht an. Zwar heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag: „Magersucht ist bei Jugendlichen die Krankheit mit der höchsten Sterberate.“ Und: „Derzeit gibt es im Land Bremen keine ausreichenden zielgruppenspezifischen, niedrigschwelligen Angebote.“ Wie sich das ändern ließe, steht dort nicht. Man habe wohlweislich auf eine konkretere Formulierung verzichtet, sagt die Frauen- und Gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Doris Hoch. „Bevor wir so etwas versprechen, müssen wir wissen, wie wir es finanzieren können.“

Hasselmann hofft, dass die Krankenkassen gemeinsam eine Beratung unterstützen. Schließlich seien die Krankenhausaufenthalte viel teurer. Das sei zwar richtig, sagt Jörn Hons, Sprecher der Bremer AOK, doch Suchtberatung sei eine Aufgabe der öffentlichen Hand. „Nur weil der Staat sich aus der Verantwortung zieht, können wir das nicht auf die Beitragszahler abwälzen.“

Und: Mit Beratung alleine ist es nicht getan. Nicht alle lassen sich in wenigen Sitzungen davon überzeugen, dass sie das Suchtverhalten nicht nötig haben, viele brauchen eine Therapie. Theoretisch gibt es in Bremen genug TherapeutInnen. Dennoch müssen die Betroffenen bis zu einem Dreivierteljahr auf einen Therapieplatz warten, wie Hasselmann und die Mitarbeiterinnen des Mädchenhauses wissen.

Eine der wenigen, die sich in Bremen auf Essstörungen spezialisiert haben, ist Christine Block vom Vorstand der Psychotherapeutenkammer. Sie weiß, dass viele ihrer KollegInnen Essgestörte abweisen, weil sie zu viel Arbeit machen. Problem A: „Die sind nicht krankheitseinsichtig.“ Erst kürzlich seien zwei Frauen – wahrscheinlich auf Druck von anderen – zu ihr gekommen, die sie gleich ins Krankenhaus schicken musste. „Die eine wog 36 Kilo, kaschiert unter fünf Pullovern und wollte noch joggen gehen.“ Problem B: Die Therapeutin muss nicht nur das psychische, sondern auch das physische Wohlergehen im Auge behalten, kontrollieren, ob ein lebensbedrohliches Gewicht „erreicht“ wurde, ständigen Kontakt mit ÄrztInnen halten. Die übrigens, hat Block festgestellt, gar nicht oder viel zu spät eine Essstörung diagnostizieren. Dabei gingen Essgestörte überdurchschnittlich oft zum Arzt, weil die Menstruation ausfällt, sie müde und krankheitsanfällig sind.

Ob Bremen sich ein Beratungszentrum leisten sollte, kann Block nicht sagen. Sie wünscht sich eine Tagesklinik sowie eine Evaluation der Angebote, die es in Bremen zu Essstörungen gibt.

„Verflixte Schönheit“: Ausstellung in der Stadtbibliothek. Vorträge: www.maedchenhaus-bremen.de