Boheme huschte durch die Gassen

Seit Januar ist die Spandauer Vorstadt kein Sanierungsgebiet mehr. Mitten im alten Zentrum der Stadt ist aus einem vernachlässigten Ort ein begehrtes Schmuckkästchen entstanden. In der C/O-Galerie kann man Einst und Jetzt vergleichen

Hier ist eines der schönsten und teuersten Wohngebiete Berlins Nicht mal Verbrechen gibt es mehr, nur die Prostitution ist geblieben

VON TIMO FELDHAUS

„Wenn die Spandauer Vorstadt kein Sanierungsgebiet geworden wäre, wären die Hälfte der Häuser mit Sicherheit abgerissen worden. Die hätten die Dinger weggeknackt und gesagt: Wir sind hier 500 Meter vom Alexanderplatz weg, wir wollen Büroflächen bauen.“ Das sagt Andreas Wilke, und ist dann doch auch mal zufrieden. 15 Jahre lang hat er als Stadtplaner des „Koordinationsbüros zur Unterstützung der Stadterneuerung“ die Sanierung in der auf 67 Hektar sich ausbreitenden Spandauer Vorstadt betreut. Diese Sanierung erklärte der Berliner Senat am 15. Januar 2008 für abgeschlossen. Rund 203 Millionen Euro wurden allein von staatlicher Seite dafür aufgewendet. Im Gebiet zwischen Linienstraße, Oranienburger Straße und Hackescher Markt ist eines der schönsten, komfortabelsten und auch teuersten Wohngebiete Berlins entstanden.

Die Mitte, das ist heute ein Mythos, der sich als Hype zeigt, aber auch Hass provoziert. Heute flanieren hier Touristen, nordwestlich der Auguststraße spielen wohlbehütete Kinder auf hübschen Spielplätzen, zwischen restaurierten Altbauten und Denkmälern. Ein Beispiel eingeschränkter Gentrifizierung und sanfter Sanierung. Effizient und schnell, aber auch vorsichtig.

„Prozess und Ergebnisse“ werden nun in der Galerie C/O Berlin dokumentiert. Auf Texttafeln und anhand von Fotos, Stadtplänen und Diagrammen werden in zeitlicher Reihenfolge die Veränderungen festgehalten. Ein Dokumentarfilm zeugt von der Situation in den frühen 90ern, mit einem Beamer werden Vorher-Nachher-Fotos in den Raum projiziert. Der Eintritt ist frei. Dazu gibt es Führungen.

Wilke, der die Ausstellung aufgezogen hat, geleitet persönlich durchs Gebiet. Als er von der großen Erneuerung des Monbijouparks erzählt und den „Spandauer-Vorstadt-Pollern“, die dauernd umgefahren werden, ahnt man bald: Ohne ihn und seine Kollegen sähen die Gebäude und Straßen auf dem über 250 Jahre alten historischen Stadtgrundriss heute anders aus.

Heute prägt die Spandauer Vorstadt die größte Galeriendichte der Welt. Es ist ein Ort, an dem die Berliner Kunstmetropole zu sich selbst fand und New York und Paris neidisch macht. In den 20ern hieß das heutige „Flächendenkmal“ noch Armenviertel, es galt zusammen mit dem sich unmittelbar anschließenden Scheunenviertel als einer der am dichtesten bevölkerten Stadträume in Europa. Multikulturelle Flüchtlinge siedelten sich an, die jüdische Gemeinde fand schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts hier ein Zuhause. Die Boheme huschte durch die Gassen, die gleichzeitig von Prostitution und Verbrechen gezeichnet waren. Mit der Machtergreifung Hitlers wurden Gebäude wie die 1927 von Alexander Beer gebaute Jüdische Mädchenschule zu Sammellagern und die jüdischen Einwohner massenhaft in den Tod deportiert.

In der DDR überließen die Stadtbaumeister die Spandauer Vorstadt dann fast demonstrativ sich selbst, die engen Gässchen und halbverfallenen, niedrigen Häuser passten nicht zu den Konzepten sozialistischer Baumoderne. Sanierung blieb auf die Sophienstraße beschränkt, und schon zu diesem Zeitpunkt entstanden Bürgerinitiativen, die die Sprengung ruinöser Gebäude verhinderten. Auch das ist auf den Fotos in der Ausstellung dokumentiert. Und es ist unglaublich, wie das Gros der Hinterhöfe und Fassaden an die Mietskasernen zu Zeiten Zilles erinnerten.

Nach der Wende können bei 96 Prozent der 572 Grundstücke die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt werden. Man bekommt Mietverträge für 3 Mark pro Quadratmeter. Viele bezahlen gar nicht, sondern richten sich einfach ein im Leerstand. Die anschließende Mischung aus Kulturproduktion, Nachtleben und alternativer Lebensform führen zu dem Mythos, der auch heute noch gerne nostalgisch als „Berlin-Feeling“ der frühen 90er abgerufen wird. Wilke meint: „Kunst ist ein typischer Vorbereiter von Gentrifizierung. Es gibt die leeren Häuser, die Künstler ziehen ein, machen ihre Kunst und damit den Ort populär. Danach frisst die Revolution ihre Kinder, sind die Mieten so hoch, dass sie weiterziehen müssen. Heute können es sich nur die noch leisten, die die Kunst verkaufen, und morgen dann nur noch die, die die Kunst kaufen.“

15 Jahre Sanierung, das bedeutet auch 15 Jahre Schutz. Schutz vor dem bedingungslosen Hochtreiben der Mieten und geschmackloser Luxussanierung. Etwa die Hälfte aller Wohngebäude wurde anhand öffentlicher Förderprogramme erneuert. Mit Sozialplan, gedämpfter Miete und geregeltem Umsatzmanagement. Zwar ergänzen heute mehr als 100 Neubauten den historischen Stadtgrundriss, doch das Förderprogramm beinhaltete strenge denkmalpflegerische Auflagen. Darin sieht Wilke einen echten Erfolg und das ist auch der Grund, warum er das Großprojekt nun mit ein wenig Sorge hinterlässt. Denn Förderungen laufen aus, Verträge über beleggebundene Mieten können nun ohne weiteres von Investoren aufgekauft werden. Heute schon sind nur wenige Alteingesessene übrig. Dennoch beteuert Andreas Wilke: „Die Leute sind nicht wegen, sondern trotz der Sanierung verdrängt worden.“

Im engen Zirkel der Spandauer Vorstadt trifft man schon lange keine ethnische, soziale und politischen Heterogenität mehr an. Nicht mal Verbrechen gibt es mehr, nur die Prostitution ist geblieben. In einer Sonderpublikation für alle Anwohner zur förmlichen Aufhebung des Sanierungsgebiets kommt auch der Hamburger Investor Harm Müller-Speer zu Wort. Er hat viele Häuser im Viertel „gemacht“, auch einige neue gebaut, etwa das Adidas-Haus in der Münzstraße und SAP. Er ist überzeugt: „Wir haben Nutzer dorthin geholt. Da kommen plötzlich Leute wie Madonna und Robbie Williams. Es läuft halt.“

C/O Berlin, Oranienburger Ecke Tucholskystr. tgl. 11–20 Uhr, bis 2. März