Beim 7-Euro-Friseur

Uncool ist unsere Stärke: Kreuzberg verändert sich, aber nur in den Nischen funktionieren die Fusionen

Dort, wo eben noch ein „Plus“ war, wird bald ein neuer LPG-Biomarkt eröffnen. Unser Kreuzberg verändert sich: Überall machen neue Stehcafés mit Mitnahmemöglichkeiten auf; vereinzelt werden sogar Altbauten aufgehübscht. Die Oranienstraße ist seit langem nicht mehr dieselbe, sagen die Leute, der große Putzwahn ist allerdings nicht ausgebrochen. Noch immer leisten einige wenige Widerstand – besonders, was die Stadtumbaupläne am Spreeufer betrifft. Am offensichtlichen Verfall festzuhalten und an einer lang schon untergegangenen Utopie eines kommerzfreien Stadtteils, kann aber auch keine Lösung sein.

Denn Kreuzberg 36, das ist hier überall zu spüren, ist lange nicht mehr das eingemauerte Idyll, das es in den Achtzigern gewesen ist. Das Miteinander von Migrationshintergründen und alternativer Lebenskultur ist schwieriger geworden. Zwei neue Faktoren, die unter dem Schlagwort „Mitte“ gut erfasst werden können, halten Einzug. Mitte breitet sich aus. Zum einen sprachlich: neben den türkischen, arabischen, kurdischen und deutschen Zungen sind je nach Saison vermehrt spanische und französische zu hören. Amerikanisch gehört schon längst zum Gesamtsound. Kurz: Andere, patentere, liquidere Ausländer ziehen zu, vor allem, weil das eigentliche Mitte inzwischen voll ist.

Zum anderen modisch: Man erkennt die jungen Leute, die nach Kreuzberg kommen, an den klapprigen Brillen, an den engen, trotzdem tief sitzenden Röhrenjeans. Man erkennt es an den neuen Läden, die aufgemacht haben: Paloma Bar, Monarch und West Germany, die Lücken des Umbaus zur Zwischennutzung gebrauchen und den ohnehin Berlin-typischen Charme des Kaputten verbreiten. Der Fuchsbau im Graefekiez, der sich dem Neukölln-Schüler-und-Studenten-Trend anschmiegt und betont schmucklos bleibt. Und nicht zuletzt die Luzia in der Oranienstraße, der mittigste Laden in ganz 36.

Hier sitzen sie dann wieder, die auf lässige Außenwirkung bedachten Twens. Sprießende Haare im Gesicht, Hund unter, Notebook auf dem Tisch. Schon die schläfrig wirkenden Bedienungen passen ins Bild. Es dauert coolheitsgebotsbedingt gefühlte Stunden, bis eine Bestellung aufgenommen wird. Nebenher läuft Prince. Eine Fusion der Szenen, besonders der türkischen, der altalternativen mit dieser neuen findet weder in oben genannten Läden statt noch hier.

Für eine Vermischung sind immer noch ganz andere Läden zuständig. Die Bäcker, die 7-Euro-Friseure, der libanesische Imbiss in der Adalbertstraße und Cafés wie das Bateau Ivre, das nach zweiwöchigem Rauchverbot schnell wieder die Aschenbecher herausgekramt hat. Oder das Café Jenseits, ein paar Schritte weiter: ein Raucherbiotop, ein echter sozialer Gemischtwarenladen. Hier treffen sich Schauspieler, notorische Zeitungsleser, die älter gewordene türkische Straßengang, Austauschstudenten, Handballer, der Karl-Marx-Lesezirkel, die polnischen Freunde der polnischen Bedienung. Quer durch die Klassen, quer durch Nationen, Altersstrukturen und Vorlieben. Das Café selbst gibt sich unschick: leicht verlottert und schrullig, mit nahezu unmöglichen Fotografien an den Wänden. Un- cool. Eben angenehm uninteressant. Perfekte Voraussetzungen, um über alle Distinktionen hinweg neben- und miteinander Kaffee zu trinken.

RENÉ HAMANN