Ohne Veto wär’s schlimmer

Paul Kennedy sieht die UNO auf dem „Weg zu einer Weltregierung“. Dabei ignoriert er die strukturellen Probleme der Institution und den Antisemitismus vieler UNO-Kritiker

Manche mögen die UNO und manche nicht. Je nachdem wird ihre Mangelhaftigkeit so dargestellt wie das bekannte Glas Wasser: als halb voll oder halb leer. Paul Kennedy mag sie und sieht das Glas halb voll. Wenn er sein Buch „Parlament der Menschheit“ nennt, greift er eine Formulierung des englischen Romantikers Tennyson auf, der von einem Parlament träumte, in dem die Weltangelegenheiten in friedlicher Übereinkunft gelöst werden sollten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand Tennyson mit diesem Traum noch ziemlich allein. Europa war damals gerade auf dem Weg in die Ordnung des Wiener Kongresses, in dem nicht auf Übereinkunft, sondern auf das Gleichgewicht feindlicher Mächte gesetzt wurde – eine Ordnung, die bis 1914 relativ stabil war. Mittlerweile ist der Geist von Tennyson vorherrschend: Das Vertrauen in die Kraft einer friedlichen Übereinkunft ist herrschend, und Kennedy gibt ihm Ausdruck. Er kann deshalb mit viel Zustimmung zu seinem UN-freundlichen Buch rechnen.

Pedro Sanjuan mag die UNO nicht. Er sieht das Glas halb leer und hat sein Buch „Die UN-Gang“ genannt. Er war – erklärtermaßen als amerikanischer Spion – viele Jahre in der UNO tätig und hat ihre Mängel im Rahmen dieser Tätigkeit so gründlich kennengelernt, dass er sie für einen verkommenen Haufen hält, der sich, soweit er nicht gerade faul herumliegt, in der Tiefgarage mit Drogen- und Waffenhandel beschäftigt. Er sieht die Vereinten Nationen zynisch und weist darauf hin, dass ihre Hauptaufgabe, den Weltfrieden zu garantieren, in der längsten Zeit ihres Bestehens nicht von ihnen, sondern vom atomaren Patt des Kalten Krieges erfüllt wurde, das die Ziele der UN-Charta unterlief. Die Welt könnte sich die UNO, so Pedro Sanjuan, sparen. Sein Buch stieß daher auf viel Kritik.

Paul Kennedy hingegen erzählt eine Erfolgsgeschichte. Die universale Durchsetzung der Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichstellung der Frauen, der Kampf gegen Hunger und Seuchen: All diese großen Aufgaben sind nach seiner Ansicht in den Händen der UNO richtig aufgehoben. Die Sicherung des Weltfriedens allerdings – von dieser Hauptaufgabe ist in seinem Buch nicht viel die Rede.

Kennedy muss darüber hinweggehen, denn auch er sieht die große Schwäche der Vereinten Nationen, dass der Sicherheitsrat nur dann in einem Krisengebiet intervenieren kann, wenn sich seine fünf permanenten Mitglieder einstimmig dafür entschieden haben, wenn seine Beschlüsse also nicht durch ein Veto blockiert sind. Kennedy gehört nicht zu denjenigen, die meinen, dass eine Reform etwas an diesem Mangel ändern könnte. Denn diese Freunde der UNO befinden sich in dem gut gemeinten Irrtum, dass man durch eine Änderung des Stimmrechts eine funktionierende Weltregierung schaffen könnte. Sie verlangen, dass die Entscheidungen im Sicherheitsrat auch dann gültig sein sollen, wenn sie nur mehrheitlich – notfalls gegen die Stimme einer Großmacht – erfolgen. Diesem Irrtum ist Kennedy nicht erlegen.

Er weiß, dass die widersprechende Großmacht ihren Unwillen gegen das weltzentrale Eingreifen durch militärischen Widerstand zum Ausdruck bringen könnte – und der Fall, den die Charta unter allen Umständen verhindern will, eintreten würde: eine bewaffnete Auseinandersetzung der Großmächte, womöglich ein Weltkrieg. Der Sicherheitsrat braucht das Vetorecht, weil die UNO kein Gewaltmonopol besitzt.

Aber Kennedy macht von dieser Schwäche nicht viel Aufhebens. Er konzediert ganz nebenbei, dass die UNO unabänderlicherweise nur die Schwachen, nicht aber die Starken in Schach halten kann. Dennoch hat Kennedy seinem Buch den Untertitel „Auf dem Wege zu einer Weltregierung“ gegeben – ein Widerspruch, der ungelöst bleibt.

Nicht nur Kennedy, sondern die ganze öffentliche Meinung geht mit diesem unabänderlichen Widerspruch lax um. Statt sich mit ihm zu befassen, beschäftigen sich UNO-Kritiker – oft hinter vorgehaltener Hand – mit der Vermutung, dass die Juden an dem Versagen der UNO schuld seien. Diese Auffassung wird bei Pedro Sanjuan heftig bekämpft. Er beklagt, dass er in der UNO an allen Ecken und Enden Antisemitismus vorgefunden hat. „So your father was a Jew, yes?“ – mit dieser Vermutung, mit der er als UNO-Skeptiker ständig konfrontiert wurde, beginnt sein Buch.

Sanjuan ist offenbar kein Jude, aber er unterstützt die israelische Politik. Ist Israel der Schurke im Stück? An dieser Frage scheiden sich zurzeit die Geister. Freunde und Feinde der UNO sortieren sich danach. Tatsächlich hält sich die israelische Sicherheitspolitik nicht an die Weltregeln. Sie hat kein Vertrauen in die Vereinten Nationen, sondern setzt auf ihren mächtigsten Verbündeten, die USA, die stark genug sind, um sich über die Charta hinwegzusetzen. Das muss allen denen zuwider sein, die nicht erkennen, dass die Schwäche der UNO strukturell ist.

Die Diskussion müsste offen geführt werden. Dann könnte offenbar werden, dass es in dieser Menschheitsfrage nicht darum gehen kann, ob man die Juden mag oder nicht, sondern darum, ob der Weltfrieden tatsächlich von einer auf einhellige Übereinkunft angewiesenen Instanz garantiert werden kann. Auch diejenigen, die die Israel-freundliche US-Politik ablehnen, könnten einsehen, dass sich die Welt eher „auf dem Wege zur Weltregierung“ befände, wenn die faktische Monopolisierung der atomaren Gewalt unterstützt würde – und wäre es durch die USA.

Soweit der Prozess in diese Richtung läuft, wird er durch das israelische Sicherheitsbedürfnis in Bewegung gehalten – sei dieses Bedürfnis nun übertrieben oder nicht. Alle wirklichen Einigungsbewegungen in der Geschichte kristallisierten sich um konkrete Anlässe, die später oft vergessen wurden. Bei der Entstehung einer wirksamen Weltregierung könnte Israels Sicherheit dieser Kristallisationspunkt sein.

SYBILLE TÖNNIES

Paul Kennedy: „Das Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann. C. H. Beck, München 2007, 400 Seiten, 24,90 Euro Pedro Sanjuan: „Die UN-Gang. Über Korruption, Spionage, Antisemitismus, Inkompetenz und islamischen Extremismus in der Zentrale der Vereinten Nationen. Erfahrungsbericht eines Insiders“. Aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien. Zu Klampen, Springe 2006, 207 Seiten, 19,80 Euro