: „Ich fing wieder an zu leben“
Annegret Lange, 58 Jahre, hat viele Jahre als Bürokauffrau in einer Spedition gearbeitet und sich dann als Versicherungsagentin selbstständig gemacht. Als sie krank wurde, musste sie ihren Beruf aufgeben und fiel in ein tiefes Loch. Jetzt arbeitet sie wieder bei einer Versicherungsagentur. Als Sekretärin
Texte und Foto sind dem Buch „Lust auf Arbeit. Vom Wert der Jahre“ entnommen, das die Bremer Umsetzung des Bundesprogramms „Perspektive 50+“ dokumentiert. Herausgeberin ist die Bremer Arbeit GmbH (BAG), die in Bremen Menschen über 50 in öffentlich geförderte Arbeit vermittelt – zunächst auf ein Jahr befristet. In der Stadtbibliothek sind bis zum 18. März Porträts der Teilnehmenden von der Fotografin Kathrin Doepner ausgestellt. Susanne Gieffers war Redakteurin der taz bremen und ist heute Öffentlichkeitsreferentin der BAG. Ulrike Herrmann ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz in Berlin. taz
Katja Barloschky (Hg.): Lust auf Arbeit. Vom Wert der Jahre. Bremen 2007.
von Susanne Gieffers
Eigentlich könnte man sagen, dass die Arbeit Annegret Lange das Leben gerettet hat. Vielleicht wäre ihr das zu hoch gegriffen. Aber als es ihr so elend ging – das ist inzwischen Jahre her –, da hat die Arbeit sie aus dem Sumpf gezogen. Keine anspruchsvolle, harte, intensive Arbeit. Brot und Kuchen verkaufen bei einem Bäcker in der Nähe. Er steckt der bis auf die Knochen abgemagerten Frau Lange so viel Naschzeug zu, bis sie anbeißt. Im Wortsinn. Noch heute stehen auf ihrem Wohnzimmertisch immer Schalen mit Süßigkeiten, Bonbons, gefüllten Riegeln, Vollmilch, Nougat, Marzipan. „Ich brauch das“, sagt die Frau, die immer noch sehr schlank ist, aber die Zeit von damals komplett weggesteckt zu haben scheint.
„Ich konnte nicht mehr. Ich war seelisch am Ende“, erzählt sie. Ihre Eltern, zu denen sie eine sehr enge Bindung hatte, sterben nacheinander innerhalb von drei Monaten – nach schwerer Krankheit, die sie vor ihrer Tochter verborgen hatten. Annegret Lange trifft ein Schlag nach dem nächsten, ohne dass sie begreift, ohne dass sie die Möglichkeit hat, in Ruhe Abschied zu nehmen. Annegret Lange reagiert auf ihre Weise: Sie geht hinterher – beinahe. Wäre da nicht der Bäcker gewesen mit seinen Süßigkeiten, seinem Kuchen und seinen Kunden, die Annegret Lange anfangs stundenweise bedient und so durchs Reden, Rechnen, Einpacken, Tun wieder ins Leben zurückgelangt. Frau Lange sagt es so: „Das war geil. Ich fing wieder an zu leben. Ich hab gemerkt, was mir gefehlt hat.“
Das Reden, das Verkaufen hat ihr gefehlt. Annegret Lange hatte vor ihrer Erkrankung viele Jahre eine Versicherungsagentur geleitet. „Verkaufen kann ich“, sagt sie. „Und es war mir egal, ob ich der Oma einen Berliner verkaufte oder einem Kunden nach einem qualifizierten Gespräch eine Versicherung. Der Berliner war für die Oma in dem Moment auch eine Lebenslücke.“ Als dann die Brötchenbackmaschine von einem auf den anderen Tag kaputtgeht und Frau Langes Bäcker beschließt, nicht erst in ein paar Jahren, sondern sofort in den Ruhestand zu gehen, hat es ein Ende mit Frau Langes Aushilfsjob. Sie bekommt Arbeitslosengeld II, muss sich von ihrer gut verdienenden Tochter unterstützen lassen und mag sich gar nicht dafür. Sie versucht, ihrem Kind zu helfen, wo sie kann. „Wütend und frustriert“ ist sie, „weil ich meiner Tochter auf der Tasche liegen musste“, und „demütigend“ empfindet sie ihre Situation gegenüber dem Rest der Welt. Ihr vergangenes Dasein als selbstständige Versicherungsagentin war Annegret Lange als „Lebensqualität pur“ erschienen. Wütend und frustriert war sie, „weil ich von diesem schicken tollen Leben so viel habe aufgeben müssen, ohne mein Zutun. Ich war nicht faul gewesen, ich bin krank geworden.“ Krankheit habe sie bis dahin nicht gekannt, „als Selbstständige bist du nicht krank.“ Zwei Jahre ging das so nach ihrem Bäckersjob: Sie war wieder zurück im Leben, wusste um ihre Fähigkeiten und wie gut es ihr tun würde, diese auszuprobieren. Doch das war derzeit nicht zu haben. „Kribbelig und nervös“ beschreibt sie diesen Zustand, und einmal sagt sie: „Ich bin bekloppt geworden.“
Inzwischen arbeitet sie wieder in einer Versicherungsagentur, gefördert von über „Chance 50+“, nicht an der Verkaufsfront, sondern als Sekretärin, Organisatorin, Assistentin im Hintergrund. „Perle“ nenne ihr Chef sie, erzählt sie, und das klingt stolz. Ein bisschen wie die „Mutter der Kompanie“ fühle sie sich, und das klingt wissend. „Der Beruf ist gemein geworden“, sagt die 58-Jährige über das, was sie als ihren Traumjob bezeichnet. Ihre jetzigen Kollegen würde sie von diesem Vorwurf ausdrücklich ausnehmen. Aber das einstige Betreuen von Anfang an, das kontinuierliche Kümmern um die Versicherten, das Ansprechbarsein in allen Lebenslagen, das sei einem hemmungslosen Verkaufswillen um jeden Preis gewichen. Eine Haltung, mit der Annegret Lange nichts zu tun haben will. Als wolle sie die Ehre der Branche retten.
Die gelernte Bürokauffrau hat sich nach 21 Jahren Ehe scheiden lassen. Das ist sehr lange her, und auch das hatte viel mit Arbeit zu tun und mit dem, was Frau Lange in sich entdeckte, als sie anfing, in einer kleinen Versicherungsagentur mitzuarbeiten: sich selbst. Ihr Mann habe es nicht verkraftet, dass seine Frau sich selbst entdeckt. „Mein Gott“, beschreibt sie ihr Erwachen damals, „in dir steckt noch so viel mehr. Warum hast du das in deinem Hausfrauendasein nicht gemerkt?“ Jede Woche habe sie damals die Fenster geputzt. „Ich musste mir was beweisen“ – die sauberen Fenster „als eine Art Daseinsberechtigung“. Oder sie habe sich auf die Jagd nach Sonderangeboten gemacht, um zu zeigen: „Zu irgendwas bist du ja doch noch nütze.“ Als Mutter, räsoniert Annegret Lange, „kriegt man ja kein Echo. Essen kochen, sich ums Kind kümmern, natürlich ist das schön. Aber ich tue damit nichts für mich.“ Das änderte sich, als sie als Versicherungsagentin begann, als sie spürte, was sie dort erreichen konnte.
Bei dem „schicken tollen Leben“, das Annegret Lange einst so gut gefiel, ist sie noch nicht wieder angelangt. Doch sie zehrt davon, sie zehrt vor allem von den gesammelten Erfahrungen und von scheinbar banalen Dingen wie den „entsprechenden Klamotten“, die sie sich in den guten Zeiten zusammengekauft hatte und ohne die, da ist sie sicher, sie ihren jetzigen Job nicht bekommen hätte. Vielleicht, so könnte man auch sagen, gleicht Annegret Langes Leben ein bisschen einer Achterbahn, und Erwerbsarbeit ist ein Motor, sorgt für das Auf und das Ab. Im Moment geht es nach oben. Langsam, stetig, derzeit ohne absehbares Ende. Selbst wenn ihr aktueller Vertrag nicht verlängert würde, ist Annegret Lange sicher: „Ich finde sofort wieder einen Job. Garantiert!“
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