crime scene
: „Kind 44“: ein Held der Geheimpolizei

Viel ist schon getan worden, um der klassischen Grundsituation des Polizeiromans originelle Züge abzugewinnen. Man hat Ermittler scheitern lassen und Mörder triumphieren, hat Polizisten Familienprobleme angehängt und Kommissarinnen die Alkoholsucht. Aber das alles ist nichts im Vergleich mit den Schwierigkeiten, gegen die dieser Held zu kämpfen hat. „Kind 44“, der Erstlingsroman des jungen Briten Tom Rob Smith, spielt in der stalinistischen Sowjetunion. Sein Held, Leo Demidow, ist Offizier der Geheimpolizei. Leo, darin traditioneller Vertreter seiner Heldenrolle, ist ein Guter; jedenfalls insofern, als er an die Sache glaubt, die er vertritt. Als von ihm verlangt wird, seine eigene Frau als angebliche Spionin zu überführen, verweigert Leo sich – nach kurzem Zögern – der Diensterfüllung. Er wird zum einfachen Milizionär degradiert und strafversetzt. Dann geschieht ein grausiger Mord an einem jungen Mädchen. Leo erkennt Parallelen zu einem anderen Todesfall, den er selbst zu vertuschen half, da es im Kommunismus kein Kapitalverbrechen geben kann. Als eine weitere Leiche gefunden wird, ist er endgültig davon überzeugt, es mit einer Serie zu tun zu haben. Doch die Ermittlungen der Miliz führen dazu, dass ein Unschuldiger hingerichtet wird, ein weiterer Beschuldigter Selbstmord begeht und Hunderte von Schwulen, in deren Milieu vorbeugend ermittelt wird, in Straflager geschickt werden. Leo muss die Suche nach dem Serienmörder unter größter Geheimhaltung durchführen. Das bedeutet, sich in Todesgefahr zu begeben.

Inwiefern es kurz nach Stalins Tod für einen Milizionär tatsächlich Todesgefahr bedeutet hätte, unautorisierte Ermittlungen anzustellen, bleibt unklar. Was die Repressivität der Staatsorgane betrifft, scheint der Autor sich jedenfalls nicht völlig auf die gelesenen Quellen verlassen zu wollen, sondern führt vorsorglich einen KGB-Kollegen Leos ein, der unseren Helden mit einem – wie etwas zu oft betont wird – unerklärlichen Hass verfolgt und daher eine permanente Bedrohung darstellt. Die Handlung auf etwas so Vages wie unerklärlichen Hass zu stützen, ist allerdings ein ziemlich billiger Trick. In dieser Hinsicht gibt es einige lose Enden in diesem Roman. Nachdem zuerst in aller verfügbaren Drastik vorgeführt wird, dass unter Stalin ein Verdacht genügte, um ein Todesurteil zu bewirken, kommt die bloße Degradierung Leos sehr überraschend, ohne dass dafür noch eine akzeptable Erklärung nachgereicht würde. Auch die sexuelle Einschüchterung von Leos Frau durch einen Geheimdienstler wird ausführlich dargestellt, ohne dass diese Episode zu einer echten Intrige entwickelt würde.

Die sehr interessante Grundkonstellation, dass ein Detektiv während einer immerwährenden, sein Leben bedrohenden Verfolgungsjagd ermittelt, ist mithin nicht durchgehend schlüssig motiviert. Auch die Darstellung der Vertracktheit menschlicher Beziehungen in Zeiten des Terrors bleibt häufig im Klischeehaften stecken; und das idealisierte Bild, das Smith von den tapferen russischen Bauern auf dem Lande entwirft, ist reinster, unfassbarer Kitsch. Zuletzt bliebe noch irritiert zu vermerken, dass der Autor im Nachwort allen Ernstes betont, wie viel Spaß ihm die Recherche gemacht habe, womit er unter anderem die Lektüre von Solschenizyns „Archipel Gulag“ und Robert Conquests „Ernte des Todes“ meint. Toller Spaß. So kommt denn „Kind 44“ in historischer Hinsicht nicht über das Niveau einer reißerischen Kolportage hinaus. Aber das muss ein Spannungsroman auch nicht. Spannend ist er ja. Und die Idee mit dem verfolgten Verfolger ist wirklich gut. KATHARINA GRANZIN

Tom Rob Smith: „Kind 44“. Aus dem Englischen von Armin Gontermann. Dumont, Köln 2008, 507 S., 19,90 Euro