Israel zieht ab, Hamas feiert „Sieg“

Nach über 110 Opfern unter den Palästinensern zieht sich Israels Armee aus dem Gazastreifen zurück. Jetzt muss sich Israel entscheiden: Hamas-Führer töten und ganze Wohnviertel dem Erdboden gleichmachen – oder Friedensgespräche beginnen

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Über 110 Todesopfer, zahlreiche Verletzte und zerbombte Häuser halten die Hamas-Führung im Gazastreifen nicht davon ab, die Kämpfe der vergangenen Tage gegen die israelische Armee als für sich siegreich zu bezeichnen. Mahmud Sahar, ehemals Hamas-Außenminister, wagte sich gestern an die Öffentlichkeit und versprach tausenden Anhängern in Gaza, dass die Hamas den Palästinensern Wiedergutmachung zahlen werde, die während der israelischen Militäroperation „Heißer Winter“ Schaden davongetragen haben.

Nach fünf Tagen zogen Israels Bodentruppen gestern früh wieder aus dem Gazastreifen ab. Regierungschef Ehud Olmert kündigte indes wenige Stunden später kommende neue Aktionen an. Diese Operation war „keine einmalige“. Ungeachtet des Truppenabzugs setzte die Hamas den Raketenbeschuss auf die israelischen Orte Aschkelon und Sderot fort. Anhänger der Extremisten in Gaza riefen im Verlauf der „Siegeskundgebung“ dazu auf, die „israelischen Verbrechen“ zu rächen, die zum Tod von über 110 Menschen geführt haben.

Der „Heiße Winter“ begann am vergangenen Mittwoch, als die Hamas mit Raketensalven auf den Tod von fünf ihrer Kämpfer reagierte. Unter ungewohnt schweren Beschuss geriet dabei zum ersten Mal auch die Hafenstadt Aschkelon, die die Hamas mit modernen, offenbar aus dem Iran gelieferten Grad-Raketen beschoss. Das harte Vorgehen der israelischen Armee bei ihren Gegenangriffen löste weltweit Proteste aus.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza handelte es sich bei rund der Hälfte der Opfer um Zivilisten. Dagegen spricht die israelische Armee von nur „zehn Prozent“. Problematisch für sie ist, dass die Hamas-Kämpfer ihre Raketen aus dichtbewohnten Vierteln abfeuern. „Die Hamas missbraucht Zivilisten als Schutzschilder“, heißt es dazu in einer Mitteilung des Außenministeriums. Verantwortung für Opfer der israelischen Angriffe läge demnach bei den Palästinensern, „die die Zivilisten willkürlich der Gefahr aussetzen“.

Am Mittwoch soll das Sicherheitskabinett Israels über weitere Maßnahmen beraten. Die Vorschläge der Minister reichen von der Hinrichtung politischer Hamas-Führer über das Ausradieren ganzer Wohnviertel bis hin zum Ende des diplomatischen Boykotts gegen die Hamas und zur Aufnahme von Gesprächen mit den Extremisten.

„Der einzige Weg“, um die Raketenbedrohung einzudämmen und die Hamas zu schwächen, so glaubt der israelische Regierungschef, „ist die Anwendung unterschiedlicher Methoden auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlicher Intensität“. Olmert will parallel zum Kampf gegen die Raketenbedrohung auch die Friedensgespräche fortsetzen. Eine Ende des Friedensprozesses würde zu einer weiteren Machtübernahme der Hamas führen, so warnte Olmert und sprach von einer „Gazanisierung“ des Westjordanlandes.

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hatte die Friedensverhandlungen aufgrund der erneuten Eskalation auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Wie Saeb Erikat, palästinensischer Chefunterhändler bei den Friedensgesprächen, mitteilte, sollen die Gespräche vorerst eingefroren bleiben. „Wir wollen sicher sein, dass sich das, was passiert ist, nicht wiederholt“, meinte Erikat. Nicht nur die Führung der Fatah, sondern auch die Bevölkerung im Westjordanland solidarisierte sich mit Gaza und zog in Protestdemonstrationen gegen die Armee auf die Straße. In der Nähe von Ramallah erschoss ein jüdischer Siedler einen 17-jährigen Palästinenser.