Die Frau mit Betonfrisur und SPD-Herz

Die politische Agenda der Achtundsechziger fand sie rätselhaft – was haben die nur? –, den späteren Grünen aber traute sie erst recht nicht über den Weg. Wohlstandskinder hieß sie die Parteiökos, sammelsurisches Sonstwas, an das ihre SPD sich nicht verkaufen dürfe. Annemarie Renger war, als sie dies sagte, längst im politischen Gestern. Die neuen Zeiten, rot-grün unterfüttert, waren und blieben der Nachkriegsaufbauhelferin fremd.

Das war natürlich kein Wunder, denn Renger, am 7. Oktober 1919 in Leipzig in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren, war geprägt von prekärer wie stiller Opposition gegen die Nazis: Das Ende des Zweiten Weltkriegs war ihr Befreiung, nicht Niederlage. Die gelernte Verlagskauffrau, die aus politischen Gründen kein Abitur machen konnte, kümmerte sich bis Anfang der Fünfzigerjahre um den ersten, just aus dem KZ entlassenen Nachkriegsparteivorsitzenden Kurt Schumacher, war ihm Sekretärin wie Haushälterin. Nach seinem Tod 1952 machte sie eine solide Laufbahn in der SPD; 1953 wurde sie erstmals in den Bundestag gewählt. Ihre Weltwahrnehmung war die von Reparatur und Instandsetzung, von Wirtschaftswunder und Arbeit in ihrer Partei, auf dass sie zu einer staatsführungsfähigen Organisation werde. Dieser Aufstieg war in ihrer Person perfekt zur Geltung gebracht: Mit der Bundestagswahl 1972, als die SPD, mit Willy Brandt als Kanzler an der Spitze, erstmals die größte Partei im Parlament werden konnte, wurde sie Bundestagspräsidentin – protokollarisch die zweithöchste Person im Staate. Selbstverständlich hat sie ihren Job nicht als feministischen Erfolg begriffen sehen wollen, wenngleich sie die Paragraf-218-Kampagne von Alice Schwarzer immer unterstützte. Aber Bundestagspräsidentin? Selbst in ihrer Partei galt sie meist nur als Schumachers Haushälterin, als Sekretärin auf Versorgungsposten – nicht als oberste Protokollchefin des Parlaments. Renger sagte lapidar: „Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte: Es ist bewiesen, dass eine Frau dies kann.“

Das war ihr Zenit, später haderte sie, Antikommunistin durch und durch, mit dem grün-alternativem Zeitgeist auch in ihrer Partei. Man hatte sie trotzdem gern, die Frau, die auf Pflicht, Disziplin und Ordnung hielt und bei der fünf immer eine ungerade Zahl war. War berühmt für ihre Kunst des Skatspiels; niemals dementierte sie, dass das Glas auf ihrem Bundestagspräsidentinnenpult zwar wasserklar aussah, aber mit Wodka gefüllt war.

Außer mit dem Großen Bundesverdienstkreuz wurde sie mit der Ehrendoktorwürde der Ben-Gurion-Universität von Jerusalem geehrt. Annemarie Renger starb gestern im Alter von 88 Jahren. JAN FEDDERSEN