Downtown-Gefühle

Der New Yorker bringt manchmal Beiläufiges zum Thema, die New York Times ebenso – und Metropolenmagazine wie die Berliner Zitty und Tip bringen diese Angst auch immer wieder zur Sprache: dass man in der Großstadt ziemlich allein sein kann, niemand einen kennenlernen will – und manche nach Jahren der Einigelung in der eigenen Zweizimmerwohnung wie reuige Sünder wieder zu den alten Angehörigen in die Provinz zurückgehen.

Der alte Topos, der hinter all diesen Überlieferungen steckt, ist der: Die Stadt lockt mit ihren Lichtern, mit ihren Sounds, mit ihrem Klang von Geschäftigkeit und Zerstreuung, in Wahrheit jedoch sei sie nur eine Mogelei, denn sie stifte Vereinzelung, lasse in all ihrer Flüchtigkeit keine Bindungen entstehen, Freundschaft wachse nicht, sondern verderbe.

Die Kulturkritik vermutet hinter diesen ja nicht ganz falsch diagnostizierten Fällen die Krankheit der Entfremdung, ja sogar den sozialen Krebs der Bindungsunfähigkeit und Oberflächlichkeit. Kein Wunder, dass gerade New Yorker Medien diese Nöte thematisieren: Wer, in Manhattan, Brooklyn oder Queens wohnend, selbst nichts tut, um sich jenseits der eigenen Herkunft neu zu erfinden, bleibt tatsächlich ungebunden.

Gleiches gilt für Berlin: Das Jerusalem der modernen Caffé-Latte-Lebensart – die Feuerstätte der Coolness. Dennoch verlassen Jahr für Jahr eben Zugezogene die Hauptstadt wieder. Keinen Anschluss gefunden, kein Netzwerk etabliert: Das ist enttäuschend.

Kühl betrachtet, verbergen sich hinter allen Einsamkeitsschicksalen keine Besonderheiten, die als Infektion in einer Metropole, fern der Blutsverwandtschaft auftreten. Sie sind vielmehr ein Phänomen, das der Moderne überhaupt eingewoben ist: Wer sich individualisiert, begeht die erste Sünde gegen die eigene Herkunftsfamilie und gegen das Milieu, aus dem er oder sie stammt. Das nennen Kulturwissenschaftler den Preis der Selbstverwirklichung: Sie trägt das Etikett der Entfremdung.

Entfremdung muss also gelobt werden: Geh hinaus in die Freiheit, lös dich von den Zwängen deiner Familie, und wenn du weiter mit ihr zu tun haben willst, mach es zu deinen Bedingungen. In der Freiheit aber muss jeder selbst finden, was zunächst oft gar nicht gesucht wird. Freiheit in dem Sinne, wie sie der Philosoph Martin Seel vorschlägt, meint ein Gut, das zwei Temperaturen kennt: heiß, wenn sie Gutes bringt, kalt, wenn einer das Dasein als Einzelner nicht annehmen will.

Schaut man sich Kontaktanzeigen in Stadtmagazinen an, erkennt man leicht, dass die Großstadt jede Möglichkeit bietet, die man nur nutzen muss, um dem Alleinsein zu fliehen. Freizeitklubs, Hobbyvereine, Singletreffs – von Briefmarkenklubs bis zu Engtanzpartys ist alles dabei. Man darf nur nicht darauf warten, dass einem etwas widerfährt, man muss schon selbst etwas tun. Anders als in der Provinz gibt es in den entfremdeten Ballungsräumen mehr als nur den Kirchgang, den Eltern- und den Grillabend der freiwilligen Feuerwehr.

Wer solch überschaubaren Freizeitangebote schätzt, außerdem nie den Drang empfand, der Stubenluft der eigenen Eltern zu fliehen, bleibt dem Downtown-Gefühl fern und darf sich frei von Entfremdung wähnen. Ein tragischer Irrtum: Einsam im Kreis der Urfamilie zu sein, ist nämlich schlimmer als sonst wo! JAF