uli hannemann, liebling der massen
: Unstillbarer Expansionsdrang: Auf Bahn fünf schwimmt Hitler

Auf Bahn sechs schwimme ich, und auf Bahn fünf lässt sich soeben ein kräftiger junger Mann zu Wasser. Wild planschend beginnt er zu kraulen, während ich meine Brustschwimmbahnen ziehe, schön langsam und schön lange. So wird das Schwimmen fast meditativ, mit der Zeit fließt alles in einer einzigen endlos weichen Bewegung. Doch mit dem neuen Nachbarn fühle ich mich zunehmend unentspannt. Er rückt mir rücksichtslos auf die Pelle, ohne Not, aus grober Dumpfheit, Mangel an Technik, unstillbarem Expansionsdrang, was auch immer. Bahn sechs belegt die Tschechoslowakei, und auf Bahn fünf schwimmt Hitler.

Hitler schnauft und blubbert. Hitler krault mit eingebauter Vorfahrt. Hitler kann zwar nicht richtig kraulen, schon gar nicht geradeaus, doch das macht ihn umso unberechenbarer. Seine Schwimmbrille erinnert an eine Fliegerbrille, sein Schwimmstil an ein angeschossenes Flusspferd. Jetzt komm ich, jetzt komm ich, jetzt komm ich!, strahlt er mit jeder Fiber seines massigen Körpers entschlossene Asozialität aus. Bei jeder Begegnung mit dem Freizeitkamikaze muss ich weit ausholende Sicherheitskurven einbauen. Verzweifelt blicke ich mich nach Alliierten um. Auf Bahn eins und drei paddeln still zwei Studentinnen und sind vermutlich froh, dass es nicht sie sind, die vom wahnsinnigen Walross in die Enge getrieben werden.

Den fruchtbaren Nährboden für Kriege bildet exakt diese Mentalität: In öffentlichen Verkehrsmitteln bleiben die Beine weit gespreizt, obwohl sich jemand anderes setzen will, im Zug werden allein vier Plätze mit Gepäckstücken, Pausenbroten und schlechten Büchern belegt, und vor allem wird im Hallenbad blind in andere Bahnen hineingekrault, obwohl man direkt daneben eine ganze Bahn für sich hätte. Es geht ausschließlich darum, wer der Stärkere ist, oder besser: vorgibt, der Stärkere zu sein, denn oft geht dem aggressiven Kampfschwimmer frühzeitig die Puste aus. Doch das macht ihn kaum harmloser – Machtstreben ohne Muckis ist wie ein Tanklastzug ohne Bremsen: eine Gefahr vor allem für die anderen.

Ein wenig sind an den Kriegen allerdings auch diejenigen schuld, die sich klaglos verdrängen und zu Ausweichmanövern zwingen lassen, um des lieben Friedens willen, wie sie sagen. Dabei ist doch das Gegenteil richtig: Jede Appeasementpolitik spielt den Chlorwasserimperialisten bestens in die Hände. Heute eine halbe Bahn und morgen dann das ganze Schwimmbad. Sagen wir es ruhig so: Hier und heute bin ich mitschuldig am Untergang des Abendlandes, der zaudernde Chamberlain des Spreewaldbads – eher Maus als Mann, aber lieber so als wie der da.

Doch es gäbe einen Ausweg: Einen standfesten Brustschwimmerellbogen in die luftschnappende Kauleiste, ein hartes Knie in weiche Klöten – das ist die einzige Sprache, die der Soziopath versteht. Unscharf verlaufen die Trennlinien zwischen Verteidigung der Privatsphäre, antifaschistischem Widerstand und sinnvoller Aktionskunst: Das blubbernde Gurgeln des Getroffenen ist dem entschlossenen Aktivisten die lieblichste Musik, die auf rotem Wasser treibenden Schneidezähne das herrlichste Bild, die Interaktion mit dem zu Hilfe eilenden Schwimmmeister das feinste Theaterstück. Ach, ein schöner Tagtraum nur. Zweimal rufe ich „hey“, und einmal schaufle ich ihm absichtlich Wasser ins entgegenkommende Glotzgesicht. Er reagiert nicht, so taub an Ohr und Körper wie an Seele und Verstand. Schließlich flüchte ich auf Bahn sieben. Die war schon die ganze Zeit über frei. ULI HANNEMANN