: Milchkuh oder Mitgift?
Mikrokredite erlauben indischen Frauen, ein Geschäft aufzubauen. Aber sie stürzen auch viele in die Verschuldung und stützen patriarchale Bräuche
AUS TAMIL NADU CHRISTA WICHTERICH
„Früher hätten die Banken uns niemals Geld geliehen, heute laufen sie uns hinterher.“ Die Frauen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu lächeln über die Flut von Kleinkrediten, die seit einem Jahrzehnt durch die Dörfer schwappt. Noch mehr aber über die Angestellten der staatseigenen Entwicklungsbank Nabard, die mit schwarz polierten Schuhen ins staubige Dorf kommen, um die Kundinnen zu beraten. „Disziplinierte Schuldnerinnen“ nennen die Herren mit den weißen Kragen die Frauen.
„Mahalir Thittam“, Frauen-Empowerment, heißt in Tamil Nadu die Aktion, die eine Geschäftsbeziehung zwischen der Regierung des Bundesstaats, Banken, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und den armen Frauen in den Dörfern aufbaut. Basis des Pakts ist ein kleiner Kredit. Er soll den Frauen helfen, sich aus Armut und Machtlosigkeit zu befreien. Der Kleinkredit ist in Indien zum Synonym für Selbsthilfe geworden und zum Herzstück der „Feminisierung von Entwicklungsprojekten“, wie es im Fachjargon heißt: Frauen sind die Hauptakteurinnen der Armutsbekämpfung.
Die Regierung gibt den NGOs ein Budget und exakte Vorgaben: Zum Beispiel müssen sie hundert Selbsthilfegruppen in 50 Dörfern in sechs Wochen gründen. Kann eine Frau – gleich welcher Kaste, Religion oder welchen Alters – monatlich 50 Rupien, das ist etwa 1 Euro, sparen, hat sie Anspruch auf einen Kleinkredit. Zusätzlich muss sie ein Training absolvieren, damit sie lernt, mit unternehmerischem Spürsinn Einkünfte zu erwirtschaften.
400.000 Selbsthilfegruppen wurden in den vergangenen Jahren gegründet. Jede besteht aus zwanzig Frauen. Für die Rückzahlung steht die ganze Gruppe gerade – wie bei der Grameen Bank in Bangladesch, für die Mohammed Yunus 2006 den Friedensnobelpreis bekam.
Zusätzlich zu dem kleinen Kredit bekommen die Frauen eine große Verantwortung. Bei jedem Treffen zelebrieren sie ein paramilitärisch anmutendes Ritual: In Einheitssaris gekleidet, die rechte Hand ausgestreckt, sprechen die Frauen einen Katechismus nach, den ihre in einem Führungstraining geschulte „Präsidentin“ herunterbetet: „Wir geloben, jeden Monat zu sparen, den Kredit pünktlich zurückzuzahlen, das Training regelmäßig zu besuchen, ein Geschäft anzufangen, unsere Kinder in die Schule zu schicken, den Alkoholismus im Dorf zu stoppen, das Mitgiftsystem zu unterbinden, nur ein Kind zu bekommen, das Dorf sauber zu halten.“
Die Frauen verzagen nicht angesichts der Aufgabenfülle, die ihnen zugemutet wird – zusätzlich zu der Feldarbeit, dem Haushalt, der Kinderbetreuung und der Tagelöhnerei auf den Feldern reicher Bauern. Für sie zählt die Anerkennung, die der Kredit bringt. Früher durften sie sich nicht in einen Kreis mit den Männern setzen. Früher hätten sie nicht allein mit dem Bus in die Bezirkshauptstadt fahren können. Heute sagen sie nicht nur den Männern ihre Meinung, sondern gehen ohne sie zu den Behörden. Den Kredit nehmen sie in Anspruch, weil er eine Teilhabe an der Moderne verspricht. Schließlich fließt so viel Geld wie noch nie zuvor ins Dorf, und zwar in Frauenhände, zumindest zunächst einmal.
Kredit B tilgt Kredit A
Die NGOs führen ordentlich Buch. Nach ein paar Monaten müssen sie die Gruppen bewerten. Zahlt eine Gruppe fristgemäß zurück, gilt sie als erfolgreich, und die nächste Kreditstaffel wird angeboten. Oft konkurrieren im selben Dorf verschiedene NGOs und Kreditprogramme um die Frauen, und diese sind meist Mitglied in mehreren Kreditgruppen.
Umgerechnet eine halbe Milliarde Euro sind im „Mahalir Thittam“-Programm als Kleinkredite an die Dorffrauen geflossen und mit stattlichen Zinsen von 20 Prozent zurückgezahlt worden. Die Banken machen satte Gewinne, die Regierung ist durch die Eigeninitiativen der Frauen entlastet.
Tatsächlich verbirgt sich hinter der Erfolgsstatistik ein kompliziertes Geflecht von Zielen und Interessen. Viele Familien begleichen mit dem Geld ihre Schulden beim Geldverleiher, der 50 Prozent Zinsen verlangt. Oft wird der Kredit für Medikamente genutzt, für Familienfeiern oder Anschaffungen. Wie aber können sie dann zurückzahlen? „Ganz einfach“, sagen die Frauen: Mit dem Kredit der Gruppe B tilgen sie den Kredit der Gruppe A. Noch besser ist die Lage, wenn sie Mitglied in drei Gruppen mit unterschiedlichen Kreditlaufzeiten sind.
Merklich leiser erzählen einige, dass sie ihren Schmuck verkauft haben, um das Gesicht wahren und den Kredit zurückzahlen zu können. Andere leihen sich kurzfristig Geld „bei Nachbarn“, also dem örtlichen Wucherer. Der Kredit befördert sie in eine neue Verschuldungsspirale, die schwer zu stoppen ist. Die Ärmsten im Dorf, die Dalit, die offiziell die Hauptzielgruppe von Mahalir Thittam sind, können ohnehin nicht viel sparen und fallen schnell wieder aus den Gruppen heraus.
Tatsächlich schaffen es einige, aus dem Kredit ein gutes Geschäft zu machen, wie die Frauen in Virudhunagar. Sie sammelten schon immer Heilkräuter und kauften mithilfe mehrerer Kreditstaffeln Pressen und Zentrifugen, um Salben und Tinkturen nach traditionellen Rezepturen herzustellen, die sich in den Dörfern gut verkaufen lassen.
Dagegen wirken die Frauen in Endapatti wie in einer Tretmühle gefangen: Sie verleihen Handys, reparieren Fahrräder und behandeln nach Absolvierung eines medizinischen Schnellkurses Kühe. Verdient haben sie bisher kaum etwas. Doch dank der vielen Geldkreisläufe können sie den Kredit zurückzahlen. Jetzt wollen sie Kälber kaufen und mit Milch handeln.
Und die Männer? Wie gehen sie damit um, dass ihnen keine Kredite angeboten werden und sie als unzuverlässig gelten? „Wenn wir mit dem Kredit nach Hause kommen, gelten wir als gute Frauen“, spotten die Frauen in Pudukottai. Natürlich haben oftmals noch immer die Männer das Sagen, was mit dem Geld passiert. Und einige werden mit der neuen Macht ihrer Frauen nicht fertig und schlagen zu.
Ein Moped für den Gatten
„Der Kredit ist für so vieles nützlich, für Business und für Hochzeiten“, begeistern sich die Frauen. Sangathna verrät, dass sich hinter der Formel „Hochzeit“ vor allem die Mitgift, von Fernseher bis Moped, verbirgt, die an die Familie des Bräutigams gezahlt werden muss. Je mehr Geld zirkuliert, je konsumorientierter die Dörfler werden, desto höher steigen die Mitgiftforderungen.
Ragini ist glücklich, dass sie dank des Kredits ein aufwendiges Fest anlässlich der ersten Menstruation ihrer Tochter ausrichten konnte. Damit feiert die Familie die Heiratsfähigkeit ihrer Tochter und signalisiert, dass sie das Mädchen und seine Sexualität unter Kontrolle hat.
Beim nächsten Gruppentreffen stehen Ragini, Sangathna und alle anderen wieder stramm. Mit einem Achselzucken kommentieren sie, dass sie mit dem Kredit, der Frauen stärken soll, ein patriarchales System unterstützen, das Frauen der Autorität der Familie unterwirft. Josephine, seit vielen Jahren in Frauenprojekten in Tamil Nadu tätig, bestätigt dieses Paradox: „Dass wir uns artikulieren können und Zugang zu Finanzmitteln haben – das sind große Fortschritte für die Frauen. Aber sie haben nichts daran geändert, dass in Tamil Nadu Mädchenmord, Gewalt gegen Frauen und Mitgiftzahlungen weit verbreitet sind.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen