Ohne einen Paul oder eine Zoe fühlt man sich illegal

Kirsten Reinhardts Gastro- und Gesellschaftskritik: Einst war das Café Niesen ein wunderbarer Ort. Bis die Eltern vom Kollwitzplatz es entdeckten

Morgens ist es am besten. Oder am Abend. Wenn all die kleinen Schreihälse vom Prenzlauer Berg in ihren Betten liegen, dann gehört das Café Niesen in der Schwedter Straße uns. Den Nichteltern. Herrlich. Es ist ein heller Eckraum mit den typisch zusammengeklaubten Möbeln im Prenzlauer-Berg-Stil. Holzfußboden, Zeitungen, eine selbst gebaute Barküche: gemütlich. Als das Etablissement vor etwa zwei Jahren aufgemacht hat und dieses Stück Niemandsland zwischen dem immer leeren Aldi und dem Kinderbauernhof namens Moritz neu belebte, hatten wir es ein paar Monate für uns.

Bis das Café in Elternkreisen die Runde machte. Selbst von der Keimzelle des Bobotums, dem Kollwitzplatz, eilten die Bugaboo- und Retro-Kinderwagen-Schieber in Scharen herbei, denn: Es ist lecker, günstig und in einer Sackgasse (ergo: keine lebensgefährlichen Autos)! Und derart entspannte Besitzer, dass die Kinder überall auf dem Boden herumkriechen können! Dahin die Ruhe. Plötzlich war es wahrscheinlicher, mitten in einem Kindergeburtstagsbrunch zwischen laut plärrenden Gören und delirierenden Elternteilen zu sitzen als in aller Ruhe mit einem Kleinen Braunen (das ist die hervorragende Kaffeespezialität des Hauses) vor der Tageszeitung.

Der exquisite Käseteller mit Brie, Hartkäse aus Spanien und geriebenem Tête de Moines, garniert mit Kapernäpfeln, Oliven und fein geschnittenen Möhrenstreifen, musste auf andere Tageszeiten verschoben werden. Und auch die Hausspezialität, eine Limonadenkreation aus Holundersaft, frischer Zitrone und Mineralwasser, bekam durch die anwesenden Rotznasen einen dubiosen Beigeschmack, heißt sie doch „Niesonade“.

Im Niesen kommt man sich nun beinahe illegal vor, so ganz ohne einen Paul oder eine Zoe am Rockzipfel. Um nicht gar so misanthroph daherzukommen: Kinder sind okay. Meist machen die Eltern das Grauen erst so richtig grau. Führen sich auf, als seien sie durch die erfolgreiche Vermehrung in eine höhere Daseinsform katapultiert und als sei Erziehung in diesem Stadtbezirk tooootal out. Sie also sind schuld am innerlichen Stoßgebet: „Kinder mögen draußen bleiben, wie Zigaretten“.

Immerhin: Morgens ist es noch immer toll. Bei einem Kaffee, der genau die richtig dunkelbraune Farbe hat, einem Käseteller und einer Niesonade danach. Und am Abend genauso: Mit einem Glas Rotwein, einem der wirklich vorzüglichen hausgemachten Kuchen von Schokoladentarte bis Linzer Torte und einer Partie „Mensch ärgere dich nicht“. Ohne Rotznasen-Eltern.

CAFE NIESEN, Korsörer Str. 13 Ecke Schwedter Str, geöffnet täglich April–Okt. 10–22 Uhr, Nov.-März 10–20 Uhr, M 10 Friedrich Ludwig Jahn-Sportpark plus 10 Fußminuten durch den Mauerpark. Käseteller 5 Euro, Kleiner Brauner 1,40 Euro, Niesonade 3 Euro. Tipp: Um 10 oder nach 19 Uhr kommen.