Nie wieder auftauchen

Im Rausch der Tiefe und im Rausch des Kaufens: Das Freischwimmer-Festival setzte sechs junge Theatergruppen auf die Spur von Orgien und Selbstvergessenheit. In den Berliner Sophiensælen begann ihre Städtetournee

„Fräulein Wunder“ dankt im Kleingedruckten des Programmheftes dem Bund Deutscher PfadfinderInnen, dem FC St. Pauli und den Jesus-Freaks. Das lässt auf einen abwechslungsreichen Abend in den Sophiensælen hoffen und kam so zustande: Die freie Theatergruppe hat Anzeigen geschaltet, in denen sie Rauschexperten suchte. Das Ergebnis wurde am Mittwoch als eine der sechs Produktionen des Freischwimmer-Festivals für junges Theater gezeigt, das sich dieses Jahr dem Thema „Rausch“ verschrieben hat.

Fünf Frauen und ein tapferer Mann tragen pinkfarbene Leggings, blaue Tops und Stöckelschuhe und zeigen in einer Art Roadmovie die Stationen ihrer Rauschreise auf Leinwand. Mit viel Körpereinsatz haben sie Lachyoga gelernt und in der Fankurve Fußball-Gesänge gegrölt, waren im Swinger-Club und beim Schmerzworkshop. Live kommen jede Menge Aktionen und Erörterungen, Drogen- und Sexszenen dazu. Die Schauspieler tanzen sich in Trance, shoppen und konsumieren; sie diskutieren Batailles Konzept des Rauschs und befragen immer wieder per Video zugeschaltete Experten zum Thema.

Witz und Dauereinsatz der Schauspieler können nur leider nicht über eines hinwegtäuschen: Die Recherchereisen haben bestimmt viel Spaß gemacht, aber man hätte doch selbst auch gern was vom Rausch. Durch die vielen parallelen Abläufe bleibt die Distanz zu den einzelnen Aktionen groß; der Funke springt nicht ganz über. Momente, in denen der Charakter des Rauschs, seine Vielfältigkeit und die Anonymität, die dabei mitschwingen kann, klar werden, machen das aber wieder wett. Richtig nah an einen Zustand des Sich-Vergessens kommt man bei der akustischen Endlosschleife des Atemholens beim Tauchen, zu der man einen sehr leisen Text hört über die fehlenden Gründe, aus diesem Rausch wieder aufzutauchen.

Zum vierten Mal findet das Freischwimmer-Festival statt, sechs Gruppen zeigen ihre Produktionen, in fünf Städten treten sie auf: Düsseldorf, Hamburg, Zürich und Wien folgen Berlin. „Das ist eine sehr spannende Möglichkeit, sich nacheinander an einigen der wichtigsten Spielstätten für freies Theater zu zeigen“, sagt Marcus Droß, produktionsbegleitender Dramaturg der Freischwimmer. Das Festival ist dabei das Einzige, das mit Uraufführungen der jungen Theatercombos arbeitet.

Den Rausch erörtern die sechs Produktionen ganz unterschiedlich: So gibt es zum Beispiel ein Stück zu Arbeit und Getriebenheit, eine theatrale Party und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Freiheit: „Eine ganze Generation von SchweizerInnen verdankt dem Kinderbuch ‚Die Kanincheninsel‘ die Erkenntnis, dass eine Existenz in selbst gewählter Freiheit eine zwar lebensgefährliche, aber doch höchst erstrebenswerte Herausforderung ist.“ So wird „Das große Graue“ der Gruppe Goldproduktionen angekündigt.

Doch dieses Stück ist eine sehr seltsame Vorstellung. Zwei Schauspieler stecken in Ganzkörper-Hasenkostümen und haben Probleme, weil Treibjagd ist und ihre Sippe dabei nicht gut weg kommt. Wenn man nicht mehr zehn ist, kann man naturalistisch dargestellte Hasentrauer über tote Verwandte aber nur sehr schwer teilen. Man sucht und sucht also nach Verbindungen zum alltäglichen Kampf des Künstlers, wie es im Programmheft steht, und findet nichts. Dann wird auch noch gesungen („Sie graben sich Gänge, untertags ist es dunkel“), und spätestens jetzt wähnt man sich doch im falschen Stück. Ein Rausch war der Theaterdoppelabend insofern nicht – aber ein paar schöne Momente waren dank „Fräulein Wunder“ drin.

PATRICIA HECHT

„Das große Graue“, 14. März, 21 Uhr, Sophiensæle