Rache ist Blutdurst

„Titus Andronicus“ ist Shakespeares Erstling – und eigentlich ein unspielbares Stück. Außer man gibt es so wie Christine Eder am Bremer Schauspielhaus: Als schwarze Farce – mit Abstürzen ins eiskalte Grauen

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Sie haben Plätze in der ersten Reihe ergattert? Dann ziehen Sie mal lieber die Gummihose an. Denn das Blut spritzt. Es spritzt richtig. Rücksichtslos. Und für Schäden an der Garderobe übernimmt auch das Bremer Schauspielhaus keine Haftung. Vor allem nicht, wenn „Titus Andronicus“ auf dem Spielplan steht.

Hätte William Shakespeare nur diese hysterische Tragödie geschrieben, er hätte die Unsterblichkeit zwar bereits verdient. Aber nicht erworben. Die Handlung gilt als einigermaßen sperrig: Der Ausgangspunkt ist, dass der römische Feldherr Titus nach seinem Sieg über die Goten, obgleich selbst beliebtester Kandidat, der Kaiserwahl Saturnius’ zustimmt. Seine Tochter Lavinia gibt er ihm zur Frau. Die allerdings, der Liebe halber, mit dessen Bruder Bassianus flieht, so dass der neue Cäsar die Gotenkönigin Tamora ehelicht, die wiederum Titus – der sich durch Lavinias Verhalten entehrt fühlt – Rache geschworen hat, und – so weiter und so fort.

Rache wird der Motor genannt, doch eigentlich heißt er bloß Blutdurst. Es kommt zu Vergewaltigungen, Verstümmelungen und zum Verzehr von Menschenfleischpastete. Aber der Plot lässt sich auch ganz einfach zusammenfassen: 15 Rollen, etliche Statisten – drei Überlebende. Kann man so etwas noch spielen? Und wenn ja: Wie?

Wahrscheinlich kaum anders, als Christine Eder es in Bremen angepackt hat. Sie hat das monströse Stück auf knappe zwei Stunden komprimiert – im Wesentlichen zu einer tief schwarzen Farce. Und sie hat die Darsteller offenkundig für ihre Auffassung begeistern können: Wild wie eine Off-Gruppe spielen sie. Und doch konzentriert wie ein Festival-Ensemble.

Mit durchaus krachender Komik schützt die junge Linzer Regisseurin das Publikum vor jener so unerträglichen wie endlosen Reihe von Gewaltexzessen. Dabei hilft die ironisch-spröde Bühnenmusik der – aus Musikern von Bands wie „Die Sterne“, „Ja König Ja“ und „Die Goldenen Zitronen“ formierten – Titus-Band; gleich zur Einstimmung aufs Gemetzel gibt’s einen schrägen „Jäger aus Kurpfalz“.

Und das ist nur der Anfang. Ein derber running-gag sind natürlich die übertriebenen Blut-Fontänen. Man lacht auch über den Mohren Aron, den Geliebten der Gotenkönigin: Der ist eine Bestie. Und tritt deshalb zunächst mit King Kong-Kopf auf. Zwischendurch darf er eine Banane essen. Dafür schiebt Daniel Fries sich die Plastikmaske ein Stück nach oben. Mindestens kassiert die Regisseurin damit Shakespeares unverhohlenen Rassismus.

Und weiter, gleich am Anfang, erster Aufzug, erster Mord: Titus’ Sohn Lucius fordert „der Gefangenen Goten Stolzesten“ zur Sühne für die gefallenen Brüder. Titus benennt den Erstgeborenen Tamoras. Er wird – dafür müssen den im Hintergrund zusammengepferchten Gefesselten nach und nach die Säcke vom Kopf gezogen werden, es ist schließlich Krieg – herausgesucht, man zerrt ihn nach vorne. Das Schwert wird angelegt, Lucius holt zum Hieb aus, Tamora ruft „Halt!“ – und Glenn Goltz erstarrt augenblicklich in der Bewegung. Das ist guter Slapstick.

Nur, dabei bleibt es eben nicht. Das wär ja fad. Und umso tiefer greift das Grauen, wenn plötzlich der ausgelassene Splatter-Spaß Ernst wird. Etwa durch die subtile Geräusch-Regie, wenn der so gar nicht kraftmeierisch und mitunter regelrecht schlafmützig wirkende Tobias Beyer als Titus seiner Tochter beiläufig beim vermeintlichen Versöhnungsmahl den Hals bricht. Knirsch!

Am heftigsten aber während der Staatsjagd im dritten Akt: Die lässt Eva Gosciejewicz als cool berechnende Tamara für ihre Rache ausrichten. Hauptschuldig am Kippen des Vergnügens ins blanke Entsetzen aber ist Johanna Geißler.

Geißler nämlich ist Lavinia. Eine hübsche Lavinia mit erotischer Ausstrahlung. Während diese in einem Loch in der Bühne von den fiesen Gotenprinzen vergewaltigt und verstümmelt wird – kippt die Stimmung. Spätestens als Chiron alias Jan Byl das blutige Endstück eines soeben schräg abwärts gerammten Baseballschlägers in die Höhe hält und mit sachkundigem Blick prüft, ist die Kotzgrenze erreicht. Und dann kriecht auch noch Geißler aus der Höhle hervor. Geißler ist Lavinia: ein wimmernder Klumpen Fleisch. Mit Stümpfen, statt Händen. Ohne Zunge, um ein Wort zu sagen. Und für einen Moment ist das Gemetzel Realität geworden. E-kel-haft!

Das Ekelhafte nennt Immanuel Kant in seiner Anthropologie eine „starke Empfindung“ und erklärt es als eine akute Krise der Selbstbehauptung. Einige Menschen verlassen das Schauspielhaus. Mehr kann Theater wahrscheinlich nicht auslösen.

Es mag sein, dass Shakespeare mit seinem Stück etwas hat sagen wollen. Über Zivilisation. Und über Barbarei. Aber was auch immer, die beiden sind ihm unter der Hand zu Zwillingen geworden.

Denn das, was als die rechte Ordnung am Ende triumphiert, ist nicht weniger grausam, als das, was es beseitigt hat: Lucius, der neue Kaiser, zeigt dem gefangenen Aron dessen kurz zuvor geborenes Kind. Dann enthauptet er’s. „Oh!“ sagt Goltz, völlig teilnahmslos. Dann verfügt er, den Widersacher „bis zur Brust, dass er verhungre“ einzugraben. „Wer irgend Beistand ihm und Mitleid schenkt, der stirbt für solche Tat“. Um dann die letzten Worte in betont leieriger Weise zu sprechen: „Mit Weisheit ordnen so den Staat wir dann, dass gleich Geschick ihn nimmer treffen kann“: ein böser Zynismus.

Konsequent fasst Christoph Hetzers Bühnenbild daher den Schauplatz Rom als eine Art Wildnis, einen von Schützengräben durchzogenen Dschungel. Die Goten hat Annelies van Lare etwas exotischer gekleidet, blaue Haare und Kriegsbemalung. Die Römer tragen Trainingshose, Shirts und Namens-Tattoos auf der Brust: Zwei verfeindete Gangs. Zivilisation? Ach Gottchen. Im Hintergrund, da könnte noch eine Idee von ihr glimmen. Da steht das Wrack eines 190er-Mercedes. Und dort, abseits, hockt die Band. Vielleicht verkörpern ja die Musiker das Schöne, das Wahre und das Gute im Menschen: Ja, wer’s unbedingt glauben will, der darf das sicher glauben! Aber: Auch sie haben verdächtige Flecken auf den Westen.

Nächste Aufführungen: 23.+30.  3. sowie 2., 6., 13., 17., 25.+29. 4., 20 Uhr, Neues Schauspielhaus Bremen